Tony und Hanna: Zusammen ins tiefe Wasser

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Es war einmal ein strahlend heller Sommer, so voller Sonnenschein, dass die Eisdielen an jeder Ecke um die Wette leuchteten und die Luft nach Sonnencreme und Abenteuer roch. In diesem Sommer lebten zwei Geschwister, die unzertrennlich waren wie Pech und Schwefel, wie Topf und Deckel, wie Sonne und Mond. Das waren Tony und Hanna.

Tony, mit seinen sieben Jahren der große Bruder, hatte Haare so braun wie Kastanien im Herbst und Augen, die immer einen kleinen Funken Schabernack in sich trugen. Er war mutig, ein bisschen ungeduldig und träumte davon, ein großer Entdecker zu werden. Er wollte von den höchsten Sprungtürmen springen, die tiefsten Tauchbecken erforschen und natürlich wie ein Fisch durchs Wasser schießen können.

Hanna, seine fünfjährige Schwester, war das genaue Gegenteil. Ihr blondes Haar tanzte in wilden Locken um ihr Gesicht, und ihre großen blauen Augen betrachteten die Welt oft nachdenklich und mit einer Prise Vorsicht. Sie liebte es, Geschichten zu erfinden, malte die schönsten Bilder von Fabelwesen und besaß eine Fantasie, die so bunt war wie ein ganzer Kasten voller Wachsmalstifte. Hanna liebte das Wasser auch, aber sie mochte es am liebsten im Planschbecken, wo die Fliesen warm von der Sonne waren und das Wasser ihr nur bis zu den Knien reichte.

An jedem warmen Wochenende packten Mama und Papa die große Badetasche, und die Familie ging ins große städtische Freibad. Für Tony und Hanna war dies das Größte. Aber bevor sie ins kühle Nass des großen Beckens durften, hieß es immer: „Schwimmflügel anziehen!“

Tonys Schwimmflügel waren knallorange und hatten coole Haifischflossen aufgedruckt. Er nannte sie seine „Turbo-Hai-Flossen“ und tat so, als könnte er damit schneller als jeder andere sein. Hannas Schwimmflügel waren in allen Farben des Regenbogens gehalten, mit glitzernden Meerjungfrauen darauf. Sie waren ihre „Zauberflügel“, die sie, so glaubte sie, vor kitzelnden Wassergeistern beschützten.

Mit ihren aufgeblasenen Helfern an den Armen paddelten sie im Nichtschwimmerbereich. Tony spritzte und prustete und versuchte, so schnell zu paddeln, dass er richtige Wellen erzeugte. Hanna tanzte eher im Wasser, ließ sich sanft treiben und stellte sich vor, sie wäre die Prinzessin eines Wasserschlosses. Doch immer, wenn sie über die rote Leine zum tiefen Schwimmerbecken blickten, sahen sie die älteren Kinder. Diese Kinder brauchten keine bunten Flügel. Sie sprangen mit einem lauten „Platsch!“ vom Startblock, tauchten nach Ringen, die auf dem blau gekachelten Grund funkelten, und schwammen mit kräftigen Zügen eine ganze Bahn bis zum anderen Ende.

„Wow, schau mal!“, sagte Tony eines Nachmittags und zeigte mit dem Finger auf ein Mädchen, das elegant durch das Wasser kraulte. „Die schwimmt wie ein echter Delfin. Das will ich auch können, Hanna! Ohne diese Baby-Flügel. Dann springe ich vom Dreimeterbrett!“

Hanna nickte. Sie sah, wie frei die anderen Kinder waren. Sie träumte davon, einmal die ganze lange Bahn zu schwimmen, ohne den Boden zu berühren, dorthin, wo das Wasser so tief und geheimnisvoll dunkelblau war. „Ich auch“, flüsterte sie. „Aber… da ist es so tief.“

An diesem Abend, als die Sonne den Himmel in sanfte Rosa- und Orangetöne tauchte, saßen sie mit ihren Eltern auf dem Balkon. „Mama, Papa“, begann Tony entschlossen. „Wir wollen richtig schwimmen lernen. So richtig echt. Ohne Flügel.“

Mama und Papa lächelten sich an. „Das ist eine wunderbare Idee“, sagte Papa. „Ich glaube, ihr seid jetzt groß genug für die Schwimmschule.“

Und so begann eine Woche später ihr großes Wasserabenteuer. Die Schwimmschule war in einem Hallenbad, das nach Chlor und Aufregung roch. Das Wasser im Lernbecken war angenehm warm und leuchtete in einem hellen Türkis. Ihr Schwimmlehrer hieß Lars. Er war ein freundlicher Mann mit einem Lachen, das so ansteckend war wie ein Gähnen, und Haaren, die von der Sonne ausgeblichen waren.

In der ersten Stunde durften Tony und Hanna ihre geliebten Schwimmflügel anbehalten. Lars wollte, dass sie sich erst einmal an alles gewöhnten. Sie lernten, wie man Blasen ins Wasser pustet, als ob man einen Geburtstagskuchen für einen Fisch ausblasen würde. Sie lernten, sich auf den Rücken zu legen und mit Lars‘ Hilfe wie ein Seestern an der Oberfläche zu treiben.

Tony war in seinem Element. Er pustete die größten Blubberblasen und strampelte mit den Beinen, dass das Wasser nur so spritzte. „Lars, wann dürfen wir die Flügel ausziehen? Ich kann das schon!“, rief er ungeduldig.

Lars lachte. „Immer mit der Ruhe, mein kleiner Turbo-Hai. Alles braucht seine Zeit. Ein guter Kapitän lernt sein Schiff auch erst im Hafen kennen, bevor er aufs offene Meer fährt.“

Hanna hingegen war viel zurückhaltender. Sie hielt sich oft am Beckenrand fest. Das Gefühl, den Boden nicht mehr unter den Füßen zu spüren, machte sie nervös, selbst mit ihren Zauberflügeln. „Tony, nicht so schnell!“, rief sie, als ihr Bruder wieder einmal wild durchs Becken paddelte.

Tony hielt inne. Er sah die Unsicherheit in den Augen seiner Schwester. Er paddelte langsam zu ihr zurück. „Keine Angst, Hanna“, sagte er sanfter. „Ich bin doch da. Komm, wir machen zusammen das Seestern-Spiel. Ich halte deine Hand.“ Er nahm ihre Hand, und gemeinsam legten sie sich auf den Rücken. Hanna spürte, wie das Wasser sie trug, und Tonys Hand gab ihr Sicherheit. Sie sah die Lichter an der Decke des Hallenbads und für einen Moment fühlte es sich an, als würde sie im Sternenhimmel schweben.

Die nächste Woche kam die erste große Herausforderung. „So, ihr beiden“, sagte Lars mit einem ermutigenden Lächeln. „Heute probieren wir etwas Neues. Wir nehmen jeweils nur einen Schwimmflügel ab.“

Ein Schreck durchfuhr Hanna. Nur ein Flügel? Das fühlte sich an, als würde man mit nur einem Schuh aus dem Haus gehen. Unvollständig und wackelig.

Tony hingegen strahlte. „Endlich!“, rief er. Er zog sich entschlossen den linken Flügel vom Arm. „Pass auf, Hanna, ich zeig dir, wie’s geht!“ Er stieß sich vom Rand ab und… gluck, gluck, gluck… verschwand kurz mit dem Kopf unter Wasser. Prustend und hustend kam er wieder hoch, die Augen groß vor Schreck. Das Wasser hatte ihn auf einer Seite nach unten gezogen. Es war viel schwieriger, als er gedacht hatte.

Er paddelte enttäuscht zum Rand zurück. „Blödes Wasser“, murmelte er.

Hanna hatte alles beobachtet und ihre Angst wurde noch größer. Doch als sie das traurige Gesicht ihres Bruders sah, vergaß sie für einen Moment ihre eigene Furcht. Sie rutschte im Wasser zu ihm. „Macht nichts, Tony“, flüsterte sie. „Die besten Entdecker fallen auch mal hin. Du musst es nur nochmal versuchen. Vielleicht… vielleicht musst du auf der Seite ohne Flügel ein bisschen mehr mit dem Arm paddeln?“

Tony sah sie an. Sie hatte recht. Er hatte einfach wild drauf losgepaddelt. Er holte tief Luft, konzentrierte sich und versuchte es noch einmal. Diesmal bewegte er seinen freien Arm in großen Kreisen, so wie er es bei den Schwimmern im Freibad gesehen hatte. Und siehe da! Er blieb oben. Es war wackelig, er drehte sich ein wenig im Kreis, aber er schwamm! Ein stolzes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Hanna, du bist ein Genie!“, rief er.

Jetzt war Hanna an der Reihe. Ihr Herz klopfte wie ein kleiner Trommler in ihrer Brust. Sie zog zögerlich einen ihrer Regenbogenflügel ab. Tony kam zu ihr. „Du schaffst das“, sagte er bestimmt. „Denk dran, was du mir gesagt hast. Paddel mit dem freien Arm. Und stell dir vor, du bist eine Meerjungfrau, die nach Perlen taucht. Aber nicht mit dem Kopf“, fügte er schnell hinzu.

Hanna kicherte. Sie schloss die Augen, atmete tief durch und stieß sich vom Rand ab. Sie paddelte, so gut sie konnte. Ihr Körper fühlte sich schief und unsicher an, aber sie dachte an Tonys stolzes Gesicht und an das tiefblaue Wasser im großen Becken. Sie schaffte es! Nur ein paar Meter, aber sie hatte es geschafft! Als sie den Rand erreichte, klatschte Tony so laut er konnte. „Wir sind ein Team!“, rief er. In diesem Moment spürten sie es beide: Gemeinsam war die Angst nur noch halb so groß und der Mut doppelt so stark.

Woche für Woche machten sie Fortschritte. Sie wurden immer sicherer mit nur einem Flügel und lernten, ihre Arme und Beine besser zu koordinieren. Lars lobte sie oft: „Ihr seid ein tolles Team, ihr beiden. Ihr helft euch gegenseitig, das ist das Wichtigste beim Schwimmenlernen.“

Dann kam der Tag, der sich anfühlte wie ein Geburtstag und Weihnachten zusammen. Der Tag, an dem auch der letzte Schwimmflügel fallen sollte. Lars holte zwei bunte Schwimmbretter. „So, meine kleinen Wasserratten“, sagte er. „Die Flügel haben ausgedient. Ab heute sind das hier eure neuen besten Freunde.“

Sie übten, sich nur mit den Beinen und dem Schwimmbrett fortzubewegen. Das war anstrengend, aber es machte auch Spaß, wie kleine Motorboote durch das Wasser zu sausen. Danach übten sie die Armzüge, während Lars sie hielt.

Und dann kam der Moment der Wahrheit. Lars stellte sich ein paar Meter vom Beckenrand entfernt ins Wasser. „So, Tony. Du zuerst. Schwimm zu mir. Ganz ohne alles. Ich bin hier und passe auf.“

Tonys Herz rutschte in die Badehose. Kein Flügel? Kein Brett? Nur er und das Wasser? Er schaute zu Hanna, die ihm am Rand die Daumen drückte. Er dachte an die Delfine im Freibad, an sein Versprechen, vom Dreimeterbrett zu springen. Er holte tief Luft, stieß sich vom Rand ab und begann zu schwimmen. Ein Armzug, noch ein Armzug. Ein Beinschlag, noch einer. Sein Kopf ging kurz unter, aber er kämpfte sich wieder hoch. Er sah Lars‘ lächelndes Gesicht, das immer näher kam. Und dann… dann spürte er Lars‘ sichere Hände an seinen Schultern. Er hatte es geschafft. Er war geschwommen. Ganz allein. Ein Gefühl puren Glücks durchströmte ihn. „Ich kann schwimmen!“, schrie er und seine Stimme hallte durch die ganze Halle.

Nun war Hanna an der Reihe. Sie zitterte ein wenig. Das Wasser schien plötzlich wieder viel tiefer und größer zu sein. Doch dann sah sie Tony, der neben Lars stand und ihr aufmunternd zunickte. Sie sah Mama und Papa, die am Rand saßen und ihr zuwinkten. Sie dachte an ihre Meerjungfrauen und das Gefühl, eine ganze Bahn zu durchqueren. Sie war nicht allein.

„Du schaffst das, Hanna! Du bist die Prinzessin des Wasserschlosses!“, rief Tony ihr zu.

Das war es, was sie brauchte. Sie schloss die Augen, stellte sich eine glitzernde Krone auf ihrem Kopf vor, stieß sich ab und schwamm los. Ihre Bewegungen waren noch etwas ungelenk und sie schluckte ein bisschen Wasser, aber sie hörte nicht auf. Sie paddelte und strampelte, bis sie sicher in Papas Armen landete, der am anderen Ende auf sie gewartet hatte.

„Ich kann es! Ich kann schwimmen!“, rief sie überglücklich und umarmte ihren Papa fest. Tony schwamm sofort zu ihr und umarmte sie ebenfalls. In diesem nassen, glücklichen Moment wussten sie, dass sie etwas ganz Besonderes geschafft hatten.

Der Rest des Sommers war wie ein Traum. Ihre Schwimmflügel, die orangefarbenen Hai-Flossen und die bunten Meerjungfrauen-Flügel, lagen nun unbenutzt in der Badetasche. Sie waren zu einem Andenken geworden, an den Anfang ihres großen Abenteuers.

Als sie das nächste Mal ins Freibad gingen, rannten Tony und Hanna Hand in Hand zum Beckenrand. Ohne Zögern tauchten sie ihre Füße ins Wasser, das sich nun wie ein alter Freund anfühlte. Und dann, an diesem sonnigen Nachmittag, taten sie das, wovon sie so lange geträumt hatten. Zusammen mit Papa schwammen sie Seite an Seite über die rote Leine ins große Schwimmerbecken.

Sie schwammen ihre erste, ganze, lange Bahn bis zum anderen Ende, ohne anzuhalten. Sie kletterten am Beckenrand hinaus, ihre Herzen voller Stolz. Das Wasser war hier tatsächlich tiefer und die Fliesen am Grund schienen weiter weg. Es fühlte sich aufregend und erwachsen an.

„Wir haben es geschafft, Tony“, sagte Hanna leise und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

„Ja“, antwortete Tony und lächelte, während er zum Sprungturm hinüberschaute. „Zusammen. Und jetzt zeige ich dir, wie ein echter Entdecker vom Einer springt!“

Sie hatten nicht nur gelernt, wie man schwimmt. Sie hatten gelernt, dass man mit Mut, Geduld und vor allem mit einem Freund oder einer Schwester an seiner Seite jede noch so große Herausforderung meistern kann. Und das, so wussten sie, war das größte Abenteuer von allen.


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