Der kleine Leo saß auf seinem Bett und betrachtete seine Füße. An ihnen steckten seine allerneuesten, blitzblauen Turnschuhe. Es waren nicht irgendwelche Turnschuhe. Es waren seine Kindergarten-Abenteurer-Schuhe. So hatte Mama sie genannt. Sie hatten eine Sohle, die bei jedem Schritt leuchtete, und Leo war sich sicher, dass man damit so schnell rennen konnte wie ein Gepard. Heute war der Tag, an dem er sie zum ersten Mal richtig ausprobieren würde. Es war sein allererster Tag im Kindergarten „Villa Kunterbunt“.
In seinem Bauch fühlte es sich an, als würden ein Dutzend kleiner Schmetterlinge wild durcheinanderflattern. Ein bisschen aufgeregt, ein bisschen kribbelig und auch ein ganz kleines bisschen ängstlich. Was, wenn die anderen Kinder ihn nicht mochten? Was, wenn er Mama vermisste? Was, wenn die Schaukeln zu hoch waren?
Neben ihm auf dem Bett stand sein knallroter Rucksack. Darin war eine Brotdose mit einem lachenden Apfelgesicht, eine Trinkflasche mit einem Raumschiff und sein allerbester Freund, ein kleiner, kuscheliger Stoff-Waschbär namens Knöpfchen. Mama hatte gesagt, Knöpfchen dürfe ihn begleiten und auf ihn aufpassen, wenn er sich alleine fühlte. Leo drückte den Rucksack fest an sich. Mit Knöpfchen und den Abenteurer-Schuhen konnte eigentlich gar nichts mehr schiefgehen.
„Na, mein großer Abenteurer, bist du bereit?“, fragte Mama, die mit einem Lächeln im Gesicht im Türrahmen stand. Leo nickte tapfer, obwohl die Schmetterlinge in seinem Bauch gerade einen Looping drehten. Er rutschte vom Bett, schnappte sich Mamas Hand und gemeinsam gingen sie die Treppe hinunter. Der Duft von frischen Brötchen hing in der Luft, aber Leo war viel zu aufgeregt zum Essen. Er knabberte nur eine kleine Ecke von seinem Toast, dann waren sie auch schon auf dem Weg.
Die Villa Kunterbunt war schon von Weitem zu sehen. Es war ein großes, gelbes Haus mit einem roten Dach und bunten Fensterrahmen. Davor war ein riesiger Garten mit einem Klettergerüst, das aussah wie eine Ritterburg, einer roten Rutsche, die sich wie eine Schlange kringelte, und unzähligen Schaukeln. Aus dem Haus hörte man schon das Lachen und Rufen anderer Kinder.
Leos Herz pochte ein bisschen schneller. Er hielt Mamas Hand fester. „Keine Sorge, mein Schatz“, flüsterte sie ihm zu. „Das wird ein wunderbarer Tag.“
Als sie durch das große Holztor traten, kam ihnen eine Frau mit freundlichen Augen und Haaren, die wie ein lockerer Zopf aussahen, entgegen. Sie trug eine Latzhose mit bunten Farbspritzern und hatte das wärmste Lächeln, das Leo je gesehen hatte. „Hallo! Du musst Leo sein“, sagte sie mit einer sanften Stimme. „Ich bin Sonja, deine Kindergärtnerin. Wir haben schon auf dich gewartet. Herzlich willkommen in der Villa Kunterbunt!“
Sonja kniete sich zu Leo herunter, sodass sie auf Augenhöhe waren. „Und wer ist das in deinem Rucksack?“, fragte sie und zwinkerte ihm zu. Leo wurde ein bisschen rot, öffnete den Reißverschluss und zog Knöpfchen ein Stück heraus. „Das ist Knöpfchen“, murmelte er. „Er passt auf mich auf.“
„Knöpfchen? Was für ein wunderbarer Name!“, sagte Sonja begeistert. „Komm, Leo, ich zeige dir, wo du und Knöpfchen euren Platz habt.“
Sie führte ihn in eine Garderobe, in der viele kleine Haken an der Wand waren. Über jedem Haken war ein Bild. Ein Frosch, eine Sonne, ein Auto, ein Apfel. Sonja zeigte auf einen Haken mit einer leuchtend gelben Sonne. „Schau mal, das ist dein Zeichen. Die Sonne. Hier kannst du immer deine Jacke und deinen Rucksack aufhängen.“ Leo gefiel die Sonne. Sie strahlte genauso warm wie Sonjas Lächeln. Vorsichtig hängte er seinen Rucksack an den Haken.
Dann war der Moment da. Der Moment des Abschieds. Mama kniete sich zu ihm. „So, mein Großer. Ich muss jetzt zur Arbeit fahren. Aber ich komme dich heute Nachmittag wieder abholen, versprochen. Gleich nach dem Mittagsschlaf.“ Sie gab ihm einen dicken Kuss auf die Wange und drückte ihn fest. „Hab einen tollen Tag!“
Ein dicker Kloß bildete sich in Leos Hals. Die Schmetterlinge in seinem Bauch flatterten so wild, dass ihm ein bisschen schwindelig wurde. Er wollte Mama festhalten und sagen: „Geh nicht!“, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Er sah, wie Mama zur Tür ging, sich noch einmal umdrehte und ihm zuwinkte. Dann war sie weg.
Für einen winzigen Moment fühlte sich Leo ganz allein in dieser großen, lauten Welt. Seine Unterlippe begann zu zittern. Doch bevor eine Träne über seine Wange kullern konnte, spürte er eine sanfte Hand auf seiner Schulter. Es war Sonja.
„Alles in Ordnung, Leo?“, fragte sie leise. „Der Abschied ist immer ein bisschen schwer. Das kenne ich. Weißt du was? Ich glaube, in unserer Bauecke wird gerade ein Turm gebaut, der so hoch ist, dass er fast bis zu den Wolken reicht. Vielleicht braucht der Baumeister ja deine Hilfe?“
Leo schniefte leise und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. Ein Turm bis zu den Wolken? Das klang interessant. Neugierig folgte er Sonja in einen riesigen, lichtdurchfluteten Raum. Und was er da sah, ließ ihn staunen.
Der Raum war ein einziges Wunderland. In einer Ecke stand eine Spielküche mit winzigen Töpfen und Pfannen. In einer anderen war eine Kuschelecke mit unzähligen Kissen und Bilderbüchern. An den Wänden hingen selbstgemalte Bilder von Drachen, Prinzessinnen und lustigen Monstern. Und mitten im Raum, auf einem großen, weichen Teppich, saß ein Mädchen mit feuerroten Zöpfen und baute mit bunten Holzklötzen tatsächlich an einem riesigen Turm. Er war schon größer als sie selbst und wackelte bedenklich.
„Mia, schau mal, das ist Leo“, sagte Sonja. „Er ist neu hier. Vielleicht könnt ihr ja zusammen bauen?“
Mia schaute von ihrem Turm auf. Sie hatte ein paar Sommersprossen auf der Nase und strahlend grüne Augen. „Hallo Leo!“, sagte sie fröhlich. „Willst du mir helfen? Mein Turm braucht dringend eine breitere Basis, sonst fällt er um. Du könntest die großen, blauen Steine holen.“
Leo zögerte einen Moment, dann nickte er. Er ging zu der großen Kiste mit den Holzklötzen und suchte die größten, blauen heraus. Sie waren schwerer als er dachte. Er brachte sie zu Mia und gemeinsam begannen sie, den Turm zu verstärken. Klotz für Klotz, Stein auf Stein. Leo vergaß die Schmetterlinge in seinem Bauch. Er vergaß den Kloß im Hals. Er war jetzt ein Baumeister.
Bald kam noch ein Junge dazu. Er hieß Tom und hatte eine coole Brille auf der Nase. „Darf ich die Spitze bauen?“, fragte er. „Ich bin der beste Spitzenbauer der Welt!“
„Klar!“, riefen Leo und Mia wie aus einem Mund.
Zu dritt arbeiteten sie an ihrem Meisterwerk. Sie lachten, wenn ein Stein schief lag, und jubelten, wenn der Turm wieder ein Stück höher wurde. Sie waren so vertieft in ihr Spiel, dass sie gar nicht merkten, wie die Zeit verging. Ihr Turm war am Ende so hoch, dass Tom auf einen Stuhl steigen musste, um den letzten, roten Spitzenstein aufzusetzen. Stolz betrachteten sie ihr Werk. Es war der schönste und höchste Turm, den die Villa Kunterbunt je gesehen hatte.
„Alle Kinder, kommt zusammen!“, rief Sonja plötzlich. „Es ist Zeit für unseren Morgenkreis!“
Neugierig folgten Leo, Mia und Tom den anderen Kindern zu einem großen, runden Teppich mit bunten Sitzkissen. Sonja hatte eine Gitarre in der Hand. Sie sang ein lustiges Begrüßungslied, bei dem alle mitklatschen und mit den Füßen stampfen mussten. Danach durfte jedes Kind seinen Namen sagen und sein Lieblingstier vormachen. Als Leo an der Reihe war, war er erst schüchtern. Aber Mia neben ihm flüsterte: „Mach den Waschbären! Für Knöpfchen!“
Da musste Leo lächeln. Er stand auf, machte einen kleinen Buckel, rieb seine Hände aneinander, als würde er etwas waschen, und sagte leise: „Ich bin Leo.“ Alle Kinder klatschten und Sonja lobte ihn: „Ein ganz toller Waschbär, Leo!“ Plötzlich fühlte er sich gar nicht mehr so neu und fremd. Er war jetzt ein Teil des Kreises.
Nach dem Morgenkreis war es Zeit für das freie Spiel. Und jetzt traute sich Leo, das ganze Wunderland zu erkunden. Zuerst ging er mit Tom in die Leseecke. Sie schauten sich ein Buch über Dinosaurier an, das riesige Bilder hatte. Der Tyrannosaurus Rex sah so echt aus, dass Leo leise knurren musste. Tom lachte und knurrte zurück.
Danach entdeckte er die Verkleidungskiste. Mia war schon da und hatte sich ein glitzerndes Prinzessinnenkleid angezogen. „Du musst der Ritter sein, Leo!“, rief sie und warf ihm einen silbernen Helm und ein Holzschwert zu. Leo setzte den Helm auf, der ihm ein bisschen über die Augen rutschte, und schwang das Schwert durch die Luft. Zusammen zogen sie los, um den großen Baustein-Turm vor einem unsichtbaren Drachen zu beschützen. Sie trampelten mit den Füßen, fochten mit dem Schwert und riefen „Huzzah!“ und „Für die Villa Kunterbunt!“. Sie tobten so ausgelassen durch den Raum, dass die anderen Kinder stehen blieben und ihnen lachend zusahen.
Plötzlich klingelte ein kleines Glöckchen. „Hände waschen, es gibt Frühstück!“, rief Sonja. Alle Kinder stürmten zu den kleinen Waschbecken. Leo war erstaunt, wie alles hier genau auf seine Größe zugeschnitten war. Die Waschbecken, die Toiletten, die Stühle und Tische. Es war wirklich eine Welt nur für Kinder.
Er packte seine Brotdose mit dem lachenden Apfel aus. Mia setzte sich neben ihn und hatte eine Dose mit kleinen Tomaten dabei, die aussahen wie Marienkäfer. Sie tauschten. Ein Stück Apfel gegen eine Marienkäfer-Tomate. Es war der leckerste Tausch, den Leo je gemacht hatte.
Nach dem Essen sagte Sonja: „So, Abenteurer! Das Wetter ist herrlich. Wer hat Lust, die Ritterburg im Garten zu erobern?“
Ein lautes „ICH!“ schallte ihr entgegen. In Windeseile zogen alle ihre Jacken und Schuhe an. Leo war der schnellste. Seine blitzblauen Abenteurer-Schuhe schienen es kaum erwarten zu können.
Der Garten war noch viel größer und aufregender, als er von außen ausgesehen hatte. Leo rannte sofort zur Schaukel. Er setzte sich drauf und stieß sich mit aller Kraft ab. Höher und höher flog er, bis sein Bauch kribbelte und er das Gefühl hatte, er könnte die Wolken mit den Zehenspitzen berühren. Er schloss die Augen und fühlte den Wind im Gesicht. Das war Freiheit!
Danach eroberte er mit Mia und Tom die Ritterburg. Sie kletterten die wackelige Strickleiter hoch, balancierten über die Hängebrücke und spähten durch die kleinen Fenster, um nach Feinden Ausschau zu halten. Dann rutschten sie die kringelige, rote Rutsche hinunter, was so viel Spaß machte, dass sie es mindestens zehnmal wiederholten. Sie landeten jedes Mal lachend in einem Haufen aus weichem Sand.
Im Sandkasten bauten sie eine riesige Burganlage mit einem tiefen Wassergraben. Sie benutzten Eimer und Schaufeln und verzierten ihre Burg mit Stöcken und Steinen. Sie waren so in ihr Spiel vertieft, dass Leo völlig vergaß, nach Mama Ausschau zu halten. Er vergaß sogar Knöpfchen, der sicher und warm in seinem Rucksack an der Sonnengarderobe wartete. Er hatte jetzt Mia und Tom. Und so viele andere Kinder, mit denen er lachte und spielte.
Die Zeit verflog wie im Flug. Bald rief Sonja sie wieder herein. Es gab Mittagessen und danach eine Ruhepause. Jedes Kind hatte eine kleine Matratze mit einer eigenen Decke. Leo kuschelte sich in seine und dachte an all die Abenteuer, die er heute schon erlebt hatte. Der riesige Turm, der Kampf gegen den Drachen, das Fliegen auf der Schaukel. Er war so müde und glücklich, dass ihm fast sofort die Augen zufielen.
Als er wieder aufwachte, schien die Nachmittagssonne durch die Fenster. Einige Kinder malten an großen Staffeleien, andere hörten Sonja zu, die eine Geschichte vorlas. Leo setzte sich dazu und lauschte der Geschichte von einem mutigen kleinen Bären, der sein Zuhause verließ, um die Welt zu entdecken. Ein bisschen so wie er heute Morgen.
Und dann, mitten in der Geschichte, ging die Tür auf. Da stand seine Mama und lächelte ihn an.
Leos Herz machte einen kleinen Hüpfer. Aber es war kein ängstlicher Hüpfer mehr. Es war ein fröhlicher. Er sprang auf und rannte auf sie zu. „Mama!“, rief er und umarmte sie stürmisch. „Du musst dir unseren Turm ansehen! Er ist riesig! Und ich war ein Ritter! Und die Rutsche ist eine Schlange! Und Mia hat Marienkäfer-Tomaten!“
Er redete und redete, zog seine Mama an der Hand und zeigte ihr alles: seinen Platz mit der Sonne, den riesigen Turm, die Verkleidungskiste und das Dinosaurierbuch.
Mama lachte. „Mein kleiner Abenteurer. Es scheint, du hattest einen ganz schön aufregenden Tag.“
„Den besten!“, rief Leo.
Als er seinen Rucksack von der Garderobe holte, zog er Knöpfchen heraus und flüsterte ihm ins Ohr: „Du hast gut auf mich aufgepasst. Aber ich glaube, morgen schaffe ich es auch schon ein bisschen allein.“
Auf dem Heimweg hielt er Mamas Hand. Seine blitzblauen Abenteurer-Schuhe leuchteten bei jedem Schritt im Dämmerlicht. Die Schmetterlinge in seinem Bauch waren verschwunden. An ihrer Stelle war ein warmes, wohliges Gefühl.
„Mama?“, fragte er, als sie an ihrer Haustür ankamen.
„Ja, mein Schatz?“
„Darf ich morgen wieder in den Kindergarten gehen?“
Mama lächelte. „Aber natürlich, mein großer Abenteurer. Natürlich darfst du das.“ Und Leo wusste, dass dies erst der Anfang von vielen, vielen wunderbaren Abenteuern in der Villa Kunterbunt war.



















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