Marie drückte ihr Gesicht an die kühle Fensterscheibe des Autos. Draußen zogen die Bäume wie grüne Riesen vorbei, aber Marie hatte nur Augen für den kleinen Korb auf ihrem Schoß. Darin saß Flauschi, ihre Katze, und schaute sie mit ihren großen, runden Bernsteinaugen ein wenig verängstigt an. Flauschi war nicht nur eine Katze, sie war Maries beste Freundin. Sie war weich wie eine Wolke, konnte schnurren wie ein kleiner Traktor und jagte am liebsten Maries Spielzeugmäusen hinterher. Aber heute war Flauschi anders. Sie hatte kaum gefressen, und ihr sonst so lautes Schnurren war nur noch ein leises Brummen.
„Keine Sorge, Flauschi“, flüsterte Marie und steckte einen Finger durch das Gitter des Korbes. Flauschi rieb ihr kleines Köpfchen daran. „Mama und ich bringen dich zu einem ganz besonderen Arzt. Er wird dir helfen, wieder gesund zu werden.“
Mama, die am Steuer saß, lächelte Marie im Rückspiegel zu. „Genau, mein Schatz. Dr. Berger ist ein Tierarzt. Er ist wie ein Superheld für Tiere.“
Eine Superheldin für Tiere? Das klang aufregend! Marie stellte sich einen Mann mit einem langen Umhang und einer Maske vor, der kranken Kätzchen und Hunden die Pfote schüttelte.
Die Tierarztpraxis von Dr. Berger sah allerdings gar nicht wie eine Superheldenhöhle aus. Es war ein freundliches, helles Haus mit bunten Bildern von Tieren an den Wänden. Im Wartezimmer saß ein großer, zotteliger Hund, der freundlich mit dem Schwanz wedelte, und ein Meerschweinchen, das leise in seinem Käfig quiekte. Es roch ein bisschen nach Desinfektionsmittel, aber auch nach Heu und irgendwie… nach Tieren.
Eine nette Frau in einem grünen Kittel rief sie auf. „Marie und Flauschi? Dr. Berger wartet schon auf euch.“
Maries Herz klopfte ein wenig, als sie das Behandlungszimmer betraten. Dr. Berger war ein großer, freundlicher Mann mit einem warmen Lächeln und blitzenden Augen hinter seiner Brille. Er trug keinen Umhang, sondern einen weißen Kittel, auf dem eine kleine Katzenpfote aufgestickt war.
„Hallo Marie, hallo Flauschi“, sagte er mit einer ruhigen Stimme, die sofort beruhigend wirkte. „Na, kleine Samtpfote, was fehlt uns denn?“
Mama erklärte, dass Flauschi nicht fressen wollte und so schlapp war. Dr. Berger hörte aufmerksam zu und nickte. Dann öffnete er ganz vorsichtig die Klappe des Transportkorbes. Flauschi duckte sich erst, aber Dr. Berger streckte ihr langsam die Hand entgegen und sprach leise mit ihr. „Keine Angst, Süße. Wir tun dir nichts. Wir wollen nur mal nachsehen, was los ist.“
Ganz behutsam hob er Flauschi aus dem Korb und setzte sie auf den glatten Untersuchungstisch. Marie hielt die Luft an. Aber Flauschi schien zu spüren, dass dieser Mann ihr nichts Böses wollte. Sie blieb ruhig liegen.
Dr. Berger nahm ein seltsames Gerät, das wie Kopfhörer mit einem langen Schlauch aussah. „Das ist mein Stethoskop“, erklärte er Marie. „Damit kann ich Flauschis Herz und ihre Lunge abhören.“ Er setzte die Stöpsel in seine Ohren und hielt das runde Metallstück vorsichtig an Flauschis Brust. Er schloss die Augen und lauschte konzentriert. „Dein Herzchen schlägt ganz kräftig, kleine Flauschi“, sagte er.
Danach schaute er Flauschi in die Ohren und ins Mäulchen, tastete sanft ihren Bauch ab und prüfte ihre Temperatur. Bei jedem Schritt erklärte er Marie genau, was er tat und warum. Er zeigte ihr auf einem großen Poster, wie das Skelett einer Katze aussieht und erklärte, warum es wichtig ist, dass Katzen gesunde Zähne haben.
„Ich glaube, Flauschi hat sich nur ein bisschen den Magen verstimmt“, sagte Dr. Berger schließlich. „Sie hat wahrscheinlich etwas gefressen, was ihr nicht bekommen ist.“ Er zog eine kleine Spritze auf. „Ich gebe ihr jetzt eine kleine Spritze, damit es ihr schnell bessergeht. Das piekst nur ganz kurz.“
Marie schaute besorgt, aber Dr. Berger kraulte Flauschi so geschickt hinter den Ohren, dass sie den kleinen Piks kaum bemerkte. Danach gab er Mama noch ein paar Tropfen für Flauschi mit nach Hause.
„Du hast das ganz toll gemacht, Marie“, lobte Dr. Berger sie. „Du warst eine große Hilfe, weil du so ruhig geblieben bist. Das hat Flauschi auch gespürt.“
Marie wurde ein bisschen rot vor Stolz. Sie hatte gar nichts gemacht, außer da zu sein. Aber es fühlte sich gut an.
Als Flauschi wieder sicher im Korb saß und Mama mit Dr. Berger sprach, sah Marie sich im Raum um. An der Wand hingen Röntgenbilder, die aussahen wie geheimnisvolle Schwarz-Weiß-Fotos von Knochen. Auf einem Regal standen Gläser mit bunten Pillen und in einer Ecke stand ein großes Mikroskop. Das war viel spannender als jede Superheldenhöhle!
Dr. Berger war kein Superheld mit einem Umhang. Er war ein echter Held. Er konnte die Sprache der Tiere verstehen, ohne dass sie ein Wort sagten. Er wusste, was ihnen fehlte und wie er ihnen helfen konnte. Er hatte keine Superkräfte, aber er hatte Wissen, Geduld und ganz viel Liebe für Tiere. Er machte sie wieder gesund und ihre Besitzer wieder glücklich.
Auf dem Rückweg im Auto war Marie ganz still. Flauschi in ihrem Korb schlief schon und schnurrte leise. Das Brummen war schon wieder ein bisschen kräftiger.
„Mama?“, sagte Marie nach einer Weile.
„Ja, mein Schatz?“
„Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich werden möchte, wenn ich groß bin.“
Mama lächelte sie an. „Und was wäre das?“
Marie schaute auf den Korb in ihrem Schoß, in dem ihre beste Freundin friedlich schlief. Sie dachte an das warme Lächeln von Dr. Berger, an seine ruhigen Hände und wie er Flauschi geholfen hatte. Sie wollte auch so sein. Sie wollte auch eine Heldin sein.
„Ich werde Tierärztin“, sagte Marie mit fester Stimme. „Ich werde eine Superheldin für all die Flauschi, Bello und Hoppel auf der Welt. Ich werde lernen, wie man ihnen hilft, damit sie immer gesund und glücklich sind.“
Mama legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Das ist ein wundervoller Traum, Marie. Und ich weiß, du wirst eine ganz, ganz tolle Tierärztin werden.“
Marie lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster. Die grünen Bäume zogen immer noch vorbei, aber jetzt sahen sie nicht mehr nur wie Bäume aus. Sie sahen aus wie der Anfang eines großen, aufregenden Weges. Ihres Weges, um eine Heldin für die Tiere zu werden. Und sie konnte es kaum erwarten, loszugehen.


















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