Der Geruch von frischer Pizza und alten Steinen lag in der Luft, als Noah und Emma aus dem Taxi stiegen. Diesmal waren sie nicht in Paris, sondern in einer Stadt, die so alt war, dass sie sich fast so anfühlte, als würde sie Geschichten flüstern: Rom, die Ewige Stadt.
„Schau mal, Noah! Das ist ja riesig!“, rief Emma und zeigte auf ein gigantisches, zylinderförmiges Gebäude, das aussah, als wäre es aus Tausenden von Bauklötzen zusammengesetzt worden, die ein Riese fallen gelassen hatte. Es war das Kolosseum.
Noah, jetzt elf und noch wissbegieriger als zuvor, zückte seinen Notizblock. „Das ist das Kolosseum, Emma. Hier haben früher Gladiatoren gekämpft. Stell dir vor, da passten achtzigtausend Zuschauer rein!“
Emma, die immer noch ein Fan von knusprigem Gebäck war, aber auch ein Herz für Tiere hatte, schnüffelte. „Gibt es hier auch leckere Sachen zu essen? Und gibt es hier auch eine Zaubertaube, die uns herumführt?“
Ihre Eltern lachten. „Keine Taube, Schatz, aber vielleicht eine leckere Gelato-Eisdiele gleich um die Ecke“, sagte ihre Mutter.
Während ihre Eltern noch die Koffer ins Hotel brachten, breitete Noah auf dem Fensterbrett die neue Karte aus, die ihr Opa ihnen diesmal geschenkt hatte. Sie war anders als die Paris-Karte. Diese hier war aus festem Pergament und an den Rändern leicht angebrannt, als wäre sie durch die Zeit gereist. Statt einer Taube war auf der Karte eine kleine Wölfin mit zwei Säuglingen abgebildet, die unter einem alten Baum saß.
„Guck mal, Emma“, sagte Noah. „Das ist die römische Wölfin. Die Geschichte besagt, dass sie die Gründer Roms, Romulus und Remus, gesäugt hat.“
Emma fuhr mit dem Finger über die Abbildung der Wölfin. In dem Moment, als ihr Finger die Wölfin berührte, geschah es wieder. Ein tiefes, warmes Glühen pulsierte unter ihrer Fingerspitze. Mit einem leisen Knistern löste sich die Wölfin von der Karte. Sie war nicht winzig wie Pierre, die Taube, sondern so groß wie ein kleiner Hund, mit glänzendem, grauem Fell und klugen, goldenen Augen.
Die Wölfin schüttelte sich, streckte ihre Pfoten und sah die Kinder mit einem sanften, aber durchdringenden Blick an. „Salve, meine kleinen Nachkommen“, sagte sie mit einer tiefen, freundlichen Stimme, die ein wenig rau klang, als hätte sie viele alte Geschichten zu erzählen. „Mein Name ist Lupa, die Schutzpatronin Roms. Es scheint, ihr seid bereit für die Geheimnisse dieser Stadt.“
Noah und Emma starrten sie an. Lupa, der Wolf, der sprechen konnte!
„Eine sprechende Wölfin!“, flüsterte Emma ehrfürchtig. „Bist du echt? Kannst du uns auch zu Eis führen?“
Lupa gab ein leises, belustigtes Knurren von sich. „Ich kann euch zu den größten Wundern Roms führen, und ja, auch zu den süßesten Gelato-Läden. Wohin zuerst? Zum Ort, wo die Gladiatoren kämpften und die Löwen brüllten?“
Noah nickte aufgeregt. „Zum Kolosseum!“
„Bene! Dann folgt mir, meine Kinder! Die Geschichte wartet nicht!“
Sie schlichen aus dem Zimmer, die Pergamentkarte fest in Noahs Hand, und folgten Lupa, die mit würdevollem Gang durch die Hotelgänge schritt und von niemandem außer den Kindern bemerkt zu werden schien.
Das Echo der Gladiatoren: Das Kolosseum
Als sie vor dem Kolosseum standen, wirkte es noch beeindruckender. Es war ein riesiges, steinernes Skelett einer Arena, die Geschichten aus Jahrtausenden erzählte. Lupa setzte sich auf eine alte Steinbank und blickte hoch zu den zerbrochenen Bögen.
„Hier gab es Spektakel, die man sich heute kaum vorstellen kann“, erzählte Lupa mit ernster Stimme. „Gladiatoren, tapfere Kämpfer, traten gegeneinander an. Und manchmal wurden hier auch Seeschlachten nachgestellt, indem man die Arena mit Wasser füllte!“
Emma riss die Augen auf. „Mit echten Schiffen? Und echtem Wasser? Das ist ja wie ein riesiger Pool!“
Noah stellte sich vor, wie die Menge brüllte und die Gladiatoren mutig kämpften. Er spürte die alte Geschichte in den Steinen. Lupa führte sie hinein, wo sie unter den gewaltigen Arkaden und durch die Gänge gingen, die einst von Gladiatoren und Tieren benutzt wurden. Man konnte fast das Echo der alten Rufe hören.
„Manchmal, in stillen Nächten, hört man noch die Geister der Löwen brüllen und das Klirren der Schwerter“, flüsterte Lupa. Noah war sich nicht sicher, ob er das gruselig oder aufregend finden sollte.
Das Herz des Imperiums: Das Forum Romanum
Gleich neben dem Kolosseum erstreckte sich ein noch älterer Ort: das Forum Romanum. Es war ein Meer von zerbrochenen Säulen, zerfallenen Tempeln und alten Bögen, die in den Himmel ragten.
„Das hier war das Herz Roms“, erklärte Lupa und sprang über eine umgestürzte Säule. „Hier sprachen Senatoren, hier gab es Märkte, hier wurden wichtige Entscheidungen getroffen. Von hier aus wurde ein riesiges Reich regiert.“
Emma kletterte vorsichtig über die niedrigen Mauern und stellte sich vor, wie hier vor langer Zeit römische Kinder herumrannten und spielten. Noah versuchte, die verschiedenen Tempel zu identifizieren, die auf der Karte eingezeichnet waren.
„Die Römer waren großartige Baumeister“, sagte Lupa stolz. „Sie bauten Straßen, die durch ganz Europa führten, und Aquädukte, die Wasser in die Städte brachten. Und ihre Gesetze galten für alle.“
Sie besuchten den Tempel des Saturn und den Tempel des Vestas, wo Priesterinnen, die Vestalinnen, ein ewiges Feuer hüteten. Es war ein bisschen wie ein riesiges, steinernes Puzzle, dessen Teile man sich in Gedanken zusammensetzen musste.
Die Himmlische Kuppel: Das Pantheon
Als Nächstes führte Lupa sie zu einem beeindruckenden Gebäude, das aussah wie ein riesiger Zylinder mit einem Tempelportal davor. Es war das Pantheon.
„Dieses Gebäude ist über zweitausend Jahre alt und immer noch fast perfekt erhalten“, sagte Lupa. „Die Römer haben es ihren Göttern geweiht.“
Als sie eintraten, blickten Noah und Emma staunend nach oben. Die Kuppel war gigantisch und in ihrer Mitte gab es ein großes, rundes Loch, das Oculus genannt wurde. Durch dieses Loch fiel ein breiter Lichtstrahl wie ein himmlischer Scheinwerfer auf den Boden.
„Regnet es hier nicht rein?“, fragte Emma verwundert.
Lupa schmunzelte. „Ja, ein bisschen schon. Aber die Römer waren schlau. Der Boden ist leicht gewölbt, und es gibt kleine Abflusslöcher. Außerdem, wer kümmert sich schon um ein paar Tropfen Regen, wenn man so eine wunderbare Verbindung zum Himmel hat?“
Sie standen eine Weile da und sahen zu, wie der Lichtstrahl langsam über den Boden wanderte. Es war ein Ort voller Ruhe und alter Weisheit.
Die Süße Versuchung: Gelato-Pause!
Nach all der alten Geschichte knurrten Noahs und Emmas Mägen. Lupa sah sie mit ihren klugen Augen an. „Ich glaube, es ist Zeit für eine Belohnung, die eure Seele wärmt und euren Gaumen erfreut.“
Sie führte sie in eine kleine, belebte Gasse, wo eine Gelateria mit einem Berg von bunten Eissorten im Schaufenster lockte. Es gab Erdbeer, Schokolade, Pistazie, Zitrone und viele andere Farben, die wie kleine Kunstwerke aussahen.
Emma wählte Himbeer- und Schokoladeneis, während Noah sich für Pistazie und Zitrone entschied. Das Gelato war cremig und schmolz sanft auf der Zunge. Emma hatte sofort einen Schokoladenbart und Noahs Nase war grün vom Pistazieneis. Lupa saß geduldig daneben und leckte sich genüsslich die Schnauze, als Emma ihr einen winzigen Krümel von ihrem Hörnchen reichte.
„Mmmh, das ist das beste Eis der Welt!“, murmelte Emma mit vollem Mund.
Wünsche und Münzen: Der Trevi-Brunnen
Gestärkt und erfrischt machten sie sich auf den Weg zum Trevi-Brunnen. Sie hörten ihn schon, bevor sie ihn sahen – das Rauschen von Wasser, das sich majestätisch in einem riesigen Becken sammelte.
Als sie um die Ecke bogen, stockte ihnen der Atem. Der Brunnen war gigantisch, eine riesige Marmorskulptur mit Göttern, Pferden und Meeresbewohnern, die aus dem Felsen zu entspringen schienen. Das Wasser floss in Kaskaden herab und glitzerte in der Sonne.
„Das ist Oceanus, der Gott des Ozeans, in der Mitte“, erklärte Lupa. „Und seht ihr die Münzen im Wasser? Die Menschen werfen sie hinein und wünschen sich etwas.“
Emma strahlte. „Ich will auch! Kann ich mir wünschen, dass wir immer so tolle Abenteuer erleben?“
Noah, der eigentlich nicht an solche Dinge glaubte, fand aber, dass es hier sehr passend war. Sie bekamen von ihren Eltern je eine Münze. Emma warf ihre Münze mit einem lauten Platschen über die linke Schulter in den Brunnen und schloss die Augen, um sich etwas zu wünschen. Noah tat es ihr nach, dachte an all die tollen Geschichten, die sie schon erlebt hatten.
Lupa lächelte. „Sie sagen, wenn man eine Münze hineinwirft, kehrt man eines Tages nach Rom zurück. Und wenn man zwei Münzen wirft, findet man die Liebe. Mit drei Münzen… nun, das ist eine andere Geschichte.“
Der Staat im Staat: Vatikanstadt und Petersdom
Ihr nächstes Ziel war ein ganz besonderer Ort, der nicht nur eine Stadt war, sondern ein eigener kleiner Staat mitten in Rom: die Vatikanstadt. Schon von weitem sahen sie die riesige Kuppel des Petersdoms, die majestätisch in den Himmel ragte.
„Hier lebt der Papst“, erzählte Lupa. „Und der Petersdom ist eine der größten Kirchen der Welt.“
Als sie den Petersplatz betraten, waren sie überwältigt von seiner Größe. Er war von riesigen Säulengängen umgeben, die wie ausgestreckte Arme aussahen, die die Besucher willkommen hießen. Und der Petersdom selbst war so gigantisch, dass sie ihren Kopf weit in den Nacken legen mussten, um ihn ganz zu sehen.
Im Inneren des Doms war es noch beeindruckender. Das Licht fiel durch bunte Glasfenster und tanzte auf den goldenen Verzierungen und den prächtigen Skulpturen. Es roch nach altem Weihrauch und Geschichte.
Emma flüsterte. „Es ist so groß, dass ich mich wie eine Ameise fühle.“
Noah staunte über die Kunstwerke und die unglaubliche Handwerkskunst. „Stell dir vor, wie lange das gedauert hat, das alles zu bauen!“
Ein ruhiger Abend am Tiber
Am späten Nachmittag waren die Kinder müde, aber glücklich. Lupa führte sie zu einem ruhigen Uferabschnitt des Tibers, des Flusses, der sich durch Rom schlängelte. Die Sonne sank langsam unter und tauchte den Himmel in warme Orangetöne. Überall am Ufer saßen Menschen, die den Abend genossen.
„Rom ist wie ein großes, altes Buch“, sagte Lupa sanft, während sie ihre Schnauze auf ihre Pfoten legte. „Jede Straße, jeder Stein hat eine Geschichte zu erzählen. Man muss nur lernen, zuzuhören.“
Noah und Emma saßen schweigend da und sahen zu, wie die Lichter der Stadt nach und nach angingen und sich im Fluss spiegelten. Sie dachten an die Gladiatoren im Kolosseum, an die Kaiser im Forum, an das Licht im Pantheon, an die Wünsche im Trevi-Brunnen und an die Größe des Petersdoms.
„Ich glaube, ich habe mir gewünscht, dass wir noch viele solcher Reisen machen“, sagte Emma schließlich leise.
„Ich auch“, murmelte Noah. „Es gibt noch so viel zu entdecken.“
Lupa stupste Noahs Hand mit ihrer Schnauze an. „Dann haltet eure Augen offen und eure Herzen bereit, meine Kinder. Die Welt ist voller Wunder.“
Als sie zum Hotel zurückgingen, war Lupa noch bei ihnen. Vor ihrer Zimmertür rieb sie sich ein letztes Mal an Emmas Bein. „Denkt daran: Die Magie Roms ist wie ein Schatz, den man immer in sich tragen kann.“
Mit einem sanften Knistern verwandelte sich Lupa zurück in die gezeichnete Wölfin auf dem alten Pergament. Das warme Glühen verschwand, und die Karte lag wieder still in Noahs Hand.
Als Noah und Emma an diesem Abend in ihren Betten lagen, hörten sie die leisen Geräusche der Ewigen Stadt. Sie schlossen die Augen und träumten von alten Ruinen, sprechenden Wölfen, süßem Eis und der Gewissheit, dass die Welt noch viele Abenteuer für sie bereithielt. Rom hatte ihnen nicht nur seine Geschichte gezeigt, sondern auch eine tiefe Verbundenheit mit der Vergangenheit geschenkt.



















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