Die Flugträume des kleinen Leo

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Der kleine Leo lebte in einem Haus mit einem Garten, der so groß war, dass man darin verloren gehen konnte, und doch verbrachte er die meiste Zeit damit, nach oben zu schauen. Nicht zu den Wolken, nicht zu den Vögeln, sondern zu etwas ganz Besonderem: seinem Drachen, Windfänger genannt. Windfänger war Leos ganzer Stolz. Er hatte ihn mit seinem Papa zusammen gebaut: bunte Stoffreste, dünne Holzstäbe und eine lange, starke Schnur. Wenn der Wind pfiff, tanzte Windfänger hoch oben im blauen Himmel, zog Kreise und schien der Sonne zuzuwinken.

Leo liebte es, die Schnur fest in der Hand zu halten und zu spüren, wie der Drachen zog. Er stellte sich vor, er wäre selbst dort oben, würde über Bäume und Häuser schweben, winzige Menschen unten sehen und mit den Wolken Verstecken spielen. „Ach, Windfänger“, seufzte er oft, „wenn ich doch nur so fliegen könnte wie du!“ Seine Mama lachte dann und sagte: „Dafür hast du ja deine Fantasie, mein Schatz.“ Aber Leo wollte nicht nur in seiner Fantasie fliegen. Er wollte es wirklich.

Leos Wunsch zu fliegen wurde immer größer. Er begann, die Vögel in ihrem Flug zu studieren, wie sie ihre Flügel ausbreiteten und in der Luft glitten. Dann versuchte er es selbst. Zuerst von der obersten Stufe der Veranda. Er breitete die Arme aus wie Flügel, nahm Anlauf und sprang. Plumps! Landung auf dem weichen Gras. Es kitzelte ein bisschen, aber fliegen tat er nicht.

Als Nächstes probierte er es mit einem Regenschirm. „Der fängt doch den Wind, oder?“, dachte er. Er kletterte auf den kleinen Hügel hinter dem Haus, spannte den Schirm auf und sprang. Der Schirm flatterte wild, drehte sich einmal um sich selbst, und dann lag Leo wieder im Gras. Diesmal war es nicht so weich, und er rieb sich den Popo. Fliegen war schwerer, als es aussah. Papa fand den zerzausten Regenschirm später und schüttelte lachend den Kopf. „Fliegen, mein kleiner Adler? Da brauchst du schon mehr als einen Regenschirm.“

Leo gab nicht auf. Er sah sich Windfänger genau an, jedes Detail. Die Art, wie die Holzstäbe dem Stoff Halt gaben, wie die Schnüre alles zusammenhielten. „Ich brauche Flügel!“, dachte er sich. Und nicht irgendwelche Flügel, sondern Flügel, die stark waren wie Windfänger. Er begann, im Haus nach Materialien zu suchen. Mama schaute besorgt drein, als sie ihren besten Karton aus dem Vorratsschrank vermisste. Papa wunderte sich über die vielen zerbrochenen Kleiderbügel im Müll.

Leo bastelte und werkelte in seiner kleinen Werkstatt unter der alten Eiche. Er schnitt, klebte, band und malte. Manchmal frustrierte es ihn, wenn etwas nicht hielt oder die Form nicht stimmte. Aber dann erinnerte er sich an Windfänger, der niemals aufgab, sich in den Himmel zu schwingen. Stück für Stück nahm sein großes Flugprojekt Gestalt an. Es war kein Drachen, es war etwas ganz Neues. Es waren seine ganz persönlichen Flugflügel!

Endlich war der Tag gekommen. Leos Flugflügel waren fertig. Sie waren groß und bunt, mit stabilen Stäben und leuchtenden Federn, die er auf den Karton gemalt hatte. Sie sahen ein bisschen aus wie riesige Schmetterlingsflügel, ein bisschen wie die Flügel eines verrückten Vogels und ein bisschen wie Windfänger selbst. Leo band sie sich vorsichtig auf den Rücken, die Bänder fest um seine Schultern geschnallt. Sie waren leichter, als er gedacht hatte.

Er ging wieder zu dem kleinen Hügel. Sein Herz klopfte wie ein Trommelwirbel. Mama und Papa standen unten am Rand des Gartens und schauten zu. Sie hatten ihm versprochen, dass er es versuchen durfte. „Egal, was passiert, Leo“, hatte Papa gesagt, „du bist unser fliegender Junge.“ Leo atmete tief ein, spürte den Wind auf seinem Gesicht. Er schloss die Augen und stellte sich vor, er wäre Windfänger, leicht und frei.

Leo nahm Anlauf. Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte! Er sprang vom Hügel ab, breitete die Arme aus und …

… und fiel nicht. Nicht sofort. Für einen winzigen, magischen Moment schwebte er. Der Wind fing seine bunten Kartonflügel, trug ihn ein kleines Stückchen, bevor er sanft im Gras landete. Es war kein hoher Flug, kein langer Flug, aber es war ein Flug! Leo landete auf den Füßen, lachte laut und streckte die Arme in den Himmel. Er hatte es geschafft! Er hatte das Gefühl gehabt, zu fliegen!

Mama und Papa rannten zu ihm und umarmten ihn fest. „Du bist geflogen, Leo!“, rief Mama begeistert. Papa klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. Es war nicht wie Windfänger, der bis zu den Wolken schwebte, aber es war Leos ganz eigener Flug. Er hatte gelernt, dass man nicht immer hoch in den Himmel steigen muss, um das Gefühl des Fliegens zu erleben. Manchmal reicht ein kleiner Sprung, ein bisschen Wind und ganz viel Mut und Fantasie. Und von diesem Tag an wusste Leo: Er war zwar kein Vogel und auch kein Drachen, aber er war Leo, der fliegende Junge, und das war das Allerbeste überhaupt. Er setzte sich ins Gras, schaute zu Windfänger am Himmel auf und lächelte. Sein nächster Flug würde nicht lange auf sich warten lassen.


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