Joshua und Wildgans Goldauge

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Es war einmal ein kleiner Junge namens Joshua. Er lebte in einem kleinen, gemütlichen Haus mit einem großen Garten, der an weite, grüne Wiesen grenzte. Joshua war ein neugieriger Junge mit Haaren so hell wie die Sommersonne und Augen, die so blau waren wie der tiefste See. Aber am allerliebsten blickte er in den Himmel.

Jeden Herbst und jedes Frühjahr geschah etwas Magisches am Himmel über Joshuas Haus. Hunderte von Wildgänse zogen in großen, lauten Schwärmen vorüber. Sie flogen in einer perfekten V-Formation, als ob ein unsichtbarer Künstler sie an den Himmel gemalt hätte. Ihr lautes Rufen klang für Joshua wie eine aufregende Melodie, ein Lied von fernen Ländern und großen Abenteuern.

„Wohin fliegen sie, Papa?“, fragte Joshua eines Nachmittags, als er mit seinem Vater im Garten stand und die Gänse beobachtete.

Sein Vater lächelte. „Sie fliegen in den Süden, mein Schatz. Dorthin, wo es warm ist und die Sonne auch im Winter scheint. Im Frühling kommen sie dann wieder zurück zu uns.“

Joshua stellte sich vor, wie es sein müsste, so frei zu sein. Mit eigenen Flügeln über Wälder, Flüsse und Städte zu fliegen, die Welt von oben zu sehen und die Wolken zu berühren. Von diesem Tag an verbrachte er Stunden damit, die Gänse zu beobachten. Er lernte ihr Rufen zu unterscheiden – das laute „Gak-Gak“ zur Begrüßung und das aufgeregte Schnattern, wenn sie einen guten Rastplatz fanden. Er gab dem Anführer des Schwarms, einer großen, kräftigen Gans mit einer besonders lauten Stimme, den Namen „Kapitän Grauflügel“.

Eines späten Nachmittags, als der Herbstwind kühl durch die Bäume pfiff, bemerkte Joshua etwas Seltsames. Eine einzelne Gans hatte den Anschluss an ihren Schwarm verloren. Sie flatterte unsicher und landete erschöpft auf der Wiese hinter seinem Garten. Ihr Flügel hing seltsam herab.

Joshuas Herz klopfte schnell. Er rannte ins Haus. „Mama, Papa! Eine Gans ist verletzt!“

Gemeinsam mit seinen Eltern ging er vorsichtig auf den Vogel zu. Die Gans war verängstigt und fauchte leise, als sie näherkamen. Aber Joshuas Vater war sehr geduldig. Mit einer weichen Decke gelang es ihm schließlich, die Gans einzufangen und in die warme Scheune zu bringen.

Sie bauten ihr ein gemütliches Nest aus Heu und stellten Wasser und Körner bereit. Der Tierarzt, den sie riefen, stellte fest, dass der Flügel nur verstaucht war. „Mit ein paar Wochen Ruhe wird sie wieder fliegen können“, sagte er.

Joshua nannte die Gans „Goldauge“, wegen des goldenen Rings um ihre wachsamen, dunklen Augen. Jeden Tag nach der Schule besuchte er Goldauge in der Scheune. Er saß still in einer Ecke und erzählte ihr von seinen Träumen. Er erzählte ihr von Kapitän Grauflügel und dem großen Schwarm, von seiner Sehnsucht, mit ihnen in den warmen Süden zu fliegen.

Goldauge schien ihm zuzuhören. Langsam fasste sie Vertrauen. Sie fraß aus seiner Hand und ließ sich manchmal sogar sanft am Hals streicheln. Joshua merkte, dass auch Goldauge traurig war. Sie blickte oft sehnsüchtig zum Himmel, als würde sie dem Gesang ihrer Familie lauschen, der immer leiser wurde, je weiter der Herbst fortschritt.

Die Wochen vergingen. Draußen wurden die Tage kürzer und kälter. Goldauges Flügel heilte gut. Sie begann, ihn zu strecken und in der Scheune kleine Flugübungen zu machen. Joshua half ihr dabei. Er lief vor ihr her und schlug mit den Armen, als wären es Flügel, und rief „Gak-Gak!“, um sie zu ermutigen.

Eines Morgens wachte Joshua auf und spürte, dass etwas anders war. Die Luft war klar und eiskalt. Als er aus dem Fenster schaute, sah er, wie Goldauge aufgeregt auf dem Scheunendach auf und ab lief. Sie hatte es allein dorthin geschafft!

Joshua rannte nach draußen. Goldauge blickte ihn mit ihren klugen Augen an, dann schaute sie zum Himmel. Joshua verstand. Es war Zeit Abschied zu nehmen.

Ein trauriges Gefühl machte sich in seiner Brust breit. Er würde seine gefiederte Freundin vermissen. Aber er wusste auch, dass sie dorthin gehörte – in die unendliche Weite des Himmels.

Plötzlich hörte er ein vertrautes Geräusch. Erst leise, dann immer lauter. Ein „Gak-Gak-Gak“ drang vom Horizont herüber. Joshua kniff die Augen zusammen. Ein kleinerer Schwarm Wildgänse war am Himmel zu sehen, wahrscheinlich einer der letzten für dieses Jahr.

Goldauge hörte es auch. Sie reckte ihren Hals und stieß einen lauten, klaren Ruf aus. Es klang wie ein fröhliches „Hier bin ich! Wartet auf mich!“

Und tatsächlich, der Schwarm änderte seinen Kurs! Sie kreisten über dem Haus von Joshua. Goldauge blickte noch einmal zu Joshua hinunter, fast so, als wollte sie „Danke“ sagen. Dann nahm sie Anlauf, schlug kräftig mit den Flügeln und erhob sich in die Luft.

Joshua stand mit offenem Mund da und sah zu, wie seine Freundin höher und höher stieg. Sie schloss sich mühelos dem Schwarm an, fand ihren Platz in der V-Formation und gemeinsam flogen sie der fernen Sonne entgegen. Ihr gemeinsamer Ruf klang wie ein Triumphgesang.

Joshua stand noch lange im Garten, auch als die Gänse nur noch winzige Punkte am Horizont waren. Er war nicht mehr traurig. In seinem Herzen spürte er eine große Freude. Er hatte einem Wildtier geholfen, wieder frei zu sein.

Er wusste nun, dass man nicht selbst Flügel haben musste, um zu fliegen. Manchmal reichte es, einem Freund zu helfen, seine eigenen Flügel wieder ausbreiten zu können. Und er war sich ganz sicher: Im nächsten Frühling, wenn der Schnee geschmolzen war, würde er am Himmel Ausschau halten – nach Kapitän Grauflügel, dem großen Schwarm und einer ganz besonderen Gans mit leuchtenden Goldaugen.


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