Leo und das Geheimnis des flüsternden Waldes

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Am Rande eines kleinen, verschlafenen Dorfes, wo die Gärten in den Saum eines uralten Waldes übergingen, wohnte ein Junge namens Leo. Leo hatte Haare so wild wie ein Vogelnest und Augen so neugierig wie die eines jungen Fuchses. Mehr als alles andere liebte er Abenteuer, doch er hatte ein kleines Problem: Er fürchtete sich ein wenig vor dem großen, alten Wald. Die Bäume standen dort so dicht, dass sie selbst am helllichten Tag lange, tanzende Schatten warfen, und manchmal, wenn der Wind durch die Blätter wehte, klang es, als würden sie sich gegenseitig Geheimnisse zuflüstern.

Seine Großmutter, die in einem knarrenden Holzhaus mit einem Garten voller summender Bienen lebte, sagte immer: „Der Wald flüstert nur denen seine Geheimnisse zu, die mutig genug sind, zuzuhören.“

Eines sonnigen Nachmittags gab sie Leo eine kleine, ledergebundene Tasche. „Für deine Abenteuer“, sagte sie mit einem Augenzwinkern. In der Tasche befanden sich ein Apfel, ein Käsebrot und ein seltsam aussehender, glatter Stein, der in der Sonne wie ein Tropfen Wasser schimmerte. „Das ist ein Wunschstein“, erklärte Oma. „Aber er erfüllt keine Wünsche, wie man denkt. Er zeigt dir den Weg, wenn du dich verloren fühlst.“

Leo bedankte sich, auch wenn er nicht ganz verstand, was sie meinte. Am nächsten Tag, als die Sonne golden durch sein Fenster schien, packte ihn die Abenteuerlust. Er wollte das Geheimnis des flüsternden Waldes lüften. Mit der Tasche seiner Großmutter über der Schulter und einem festen Entschluss im Herzen, marschierte er zum Waldrand.

Er atmete tief durch und trat zwischen die ersten Bäume. Sofort wurde es kühler und stiller. Die Geräusche des Dorfes verblassten und wurden durch das Rascheln der Blätter und das ferne Klopfen eines Spechtes ersetzt. Leo ging weiter und weiter, tiefer in den Wald hinein, als er es sich je zuvor getraut hatte. Er bewunderte die moosbewachsenen Stämme, die winzigen Pilze, die wie kleine rote Hüte aus dem Boden sprossen, und die Sonnenstrahlen, die wie Scheinwerfer durch das Blätterdach brachen.

Doch nach einer Weile sahen alle Bäume gleich aus. Jeder Pfad schien sich zu gabeln, und das Klopfen des Spechtes war verstummt. Ein mulmiges Gefühl machte sich in Leos Magen breit. Hatte er sich verlaufen? Er blickte sich um, doch er konnte den Weg zurück nicht mehr erkennen. Die Schatten schienen länger und dunkler zu werden, und das Flüstern der Bäume klang nun nicht mehr geheimnisvoll, sondern ein wenig unheimlich.

Leos Herz begann schneller zu schlagen. Gerade als die Angst ihn übermannen wollte, erinnerte er sich an die Worte seiner Großmutter und den Stein in seiner Tasche. Er holte ihn heraus. Der Stein fühlte sich kühl und beruhigend in seiner Hand an. Als er ihn ins Licht hielt, begann der Stein sanft zu leuchten und ein warmes, goldenes Licht auszustrahlen.

In diesem Moment bemerkte er etwas, das er vorher übersehen hatte. Auf dem moosigen Boden vor ihm waren winzige Spuren, nicht größer als seine Daumenkuppe. Sie sahen aus wie die Abdrücke kleiner, barfüßiger Füße. Und seltsamerweise leuchteten die Spuren im Licht des Steines ebenfalls ganz schwach.

Die Neugier besiegte die Angst. Leo beschloss, den Spuren zu folgen. Sie schlängelten sich um dicke Wurzeln, führten unter Farnen hindurch und über einen kleinen Bach, den Leo hüpfend überquerte. Der Stein in seiner Hand leuchtete stetig und wies ihm den Weg.

Schließlich führten ihn die Spuren zu einer kleinen, verborgenen Lichtung. In ihrer Mitte stand eine riesige, alte Eiche, deren Äste sich wie beschützende Arme ausbreiteten. Und unter dieser Eiche, auf einer weichen Moosbank, saß ein kleines Wesen. Es war kaum größer als ein Eichhörnchen, hatte eine Haut aus Rinde und Haare aus feinem, grünen Moos. In seinen Händen hielt es eine winzige Panflöte aus Schilf.

Als das Wesen Leo bemerkte, sprang es erschrocken auf und wollte fliehen.

„Warte!“, rief Leo sanft. „Ich tue dir nichts.“

Das kleine Wesen blieb stehen und beäugte ihn misstrauisch aus großen, braunen Augen, die an glänzende Kastanien erinnerten.

„Ich habe mich verlaufen“, erklärte Leo und hielt den leuchtenden Stein hoch. „Dieser Stein hat mir den Weg zu dir gezeigt.“

Das Waldwesen schien sich ein wenig zu entspannen. Es trat näher und betrachtete den Stein. Dann sagte es mit einer Stimme, die wie das Knistern trockener Blätter klang: „Das ist ein Herzstein. Er leuchtet nur in der Nähe von Waldmagie.“ Es deutete auf die Spuren am Boden. „Ich habe die Spuren für dich hinterlassen. Ich habe gespürt, dass du Angst hattest.“

Leo war erstaunt. „Du hast das getan? Aber warum?“

„Weil der Wald nicht unheimlich ist“, antwortete der kleine Kerl. „Er ist nur alt und voller Leben. Man muss nur lernen, richtig zuzuhören.“ Er hob seine kleine Flöte an die Lippen und spielte eine Melodie. Es waren nur ein paar einfache Töne, aber sie klangen wunderschön. Plötzlich schien Leo alles um sich herum zu verstehen. Das Rauschen der Blätter war kein unheimliches Flüstern mehr, sondern ein Lied. Das Knacken der Äste war der Herzschlag des Waldes, und der Duft von Erde und Moos war sein Atem.

„Ich bin Piko“, sagte das Waldwesen. „Ich bin ein Wächter der alten Bäume.“

„Ich bin Leo“, antwortete Leo mit einem Lächeln.

Piko verbrachte den Rest des Nachmittags mit Leo. Er zeigte ihm, wie man aus Grashalmen pfeift, führte ihn zu einem Brombeerstrauch mit den saftigsten Beeren, die Leo je gegessen hatte, und erklärte ihm, dass die Eulen die Geschichtenerzähler der Nacht und die Füchse die Hüter der Dämmerung sind.

Als die Sonne tiefer sank und den Himmel orange und lila färbte, sagte Piko: „Es ist Zeit für dich, nach Hause zu gehen. Aber hab keine Angst, der Wald wird dir den Weg zeigen.“

Leo verstand. Er brauchte den Herzstein nicht mehr. Er lauschte auf das Lied des Windes, folgte dem Pfad, den das letzte Sonnenlicht auf den Boden malte, und orientierte sich am Rauschen des Baches, der zurück in Richtung Dorf floss. Er fühlte sich nicht mehr verloren. Er fühlte sich als Teil des Waldes.

Als er am Waldrand ankam, drehte er sich noch einmal um und winkte. Er konnte Piko nicht sehen, aber er hörte den leisen, sanften Ton seiner Schilfflöte, der ihm zum Abschied nachklang.

Von diesem Tag an war der Wald für Leo kein unheimlicher Ort mehr. Er war ein Freund, ein Spielplatz voller Wunder und Geheimnisse. Er besuchte Piko oft, und zusammen erlebten sie die schönsten Abenteuer. Leo hatte nicht nur das Geheimnis des flüsternden Waldes gelüftet, sondern auch einen wunderbaren Freund gefunden. Und er wusste nun, dass man manchmal nur ein bisschen Mut und ein offenes Herz braucht, um die Magie zu finden, die überall um einen herum verborgen ist.


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