Es gab für den sechsjährigen Leo keinen schöneren Ort auf der Welt als den Bahnhof seiner kleinen Stadt. Der Bahnhof war für ihn wie eine riesige Bühne, auf der jeden Tag die aufregendsten Abenteuer stattfanden. Er roch nach Abenteuern, nach weiter Welt und ein ganz kleines bisschen nach den Brezeln aus dem Kiosk am Gleis 1.
Jeden Samstagnachmittag nahm ihn sein Opa an die Hand, und gemeinsam gingen sie die kurze Strecke von ihrem Haus zum Bahnhof. Leo hatte seine Lieblingsbank, genau in der Mitte des Bahnsteigs, von wo aus er alles perfekt überblicken konnte.
„Na, mein kleiner Bahnhofsvorsteher“, sagte Opa und setzte seinen Hut ab, „mal sehen, wer uns heute alles besucht.“
Leo rutschte auf der Bank hin und her, seine Beine baumelten aufgeregt in der Luft. Er kannte sie alle, die Züge, die hier hielten. Zuerst kam meistens der „rote Flitzer“, wie Leo ihn nannte. Das war der Regionalzug, der die Menschen in die Nachbarstädte brachte. Er kam immer pünktlich mit einem leisen Surren an und bremste mit einem langen „Quiiiietsch“. Die Türen öffneten sich mit einem Zischen, und Menschen stiegen ein und aus, winkten zum Abschied oder umarmten sich zur Begrüßung.
Kurz danach rollte oft ein „brummiger Riese“ vorbei. Das war ein langer Güterzug, der gar nicht am Bahnhof hielt. Er hatte unzählige Waggons, die manchmal bunte Container, manchmal Autos und manchmal geheimnisvolle, abgedeckte Dinge transportierten. Leo liebte das rhythmische „Klick-klack, klick-klack“, das die Räder auf den Schienen machten. Er zählte die Waggons, kam aber meistens durcheinander, weil der Zug so lang war.
Die Krönung war jedoch der „weiße Blitz“. Der ICE. Er fuhr meistens auf dem hintersten Gleis durch den Bahnhof, ohne anzuhalten. Er war so schnell, dass er nur ein langes, weißes Band war, das mit einem lauten „Wuuusch!“ vorbeizischte und einen Windstoß erzeugte, der Leos Haare durcheinanderwirbelte. Für Leo war der ICE wie ein Superstar, der kurz Hallo sagte und sofort wieder verschwand.
An diesem Samstag war jedoch etwas anders. Opa hatte ein geheimnisvolles Lächeln im Gesicht. „Heute, Leo“, sagte er und zwinkerte ihm zu, „kommt ein ganz besonderer Gast. Ein Besucher aus einer alten Zeit.“
Leos Augen wurden groß. „Ein neuer Zug? Ist er schneller als der weiße Blitz?“
Opa lachte. „Nein, viel langsamer. Aber er ist viel, viel lauter und stärker. Er hat eine Stimme aus Dampf und ein Herz aus Feuer.“
Leo verstand nicht genau, was Opa meinte, aber es klang unglaublich aufregend. Er wartete. Der rote Flitzer kam und fuhr. Ein brummiger Riese klick-klackte vorbei. Aber von dem geheimnisvollen Besucher war nichts zu sehen. Leo wurde langsam ungeduldig. Er rutschte auf der Bank umher und fragte alle paar Minuten: „Wann kommt er, Opa?“
„Geduld, mein Junge. Besondere Dinge brauchen ihre Zeit“, sagte Opa und zeigte in die Ferne. „Hör genau hin.“
Leo spitzte die Ohren. Zuerst hörte er nur das Zwitschern der Vögel und das Summen der Stadt. Doch dann vernahm er ein leises, rhythmisches Geräusch. Es klang nicht wie ein Surren oder Brummen. Es war ein tiefes, kraftvolles Stampfen.
Tschuff… tschuff… tschuff…
Das Geräusch wurde lauter und lauter. Und dann hörte er einen Ton, den er noch nie zuvor gehört hatte: ein lautes, melodisches Pfeifen, das wie ein fröhlicher Gesang klang. „Tuuuut-tuuuut!“
Am Horizont, wo die Schienen am Himmel zu verschwinden schienen, erschien eine graue Wolke. Aber es war keine Regenwolke. Sie quoll nach oben und tanzte in der Luft. Und unter der Wolke tauchte etwas Großes, Schwarzes auf.
„Da ist er!“, rief Leo und sprang von der Bank.
Langsam und majestätisch rollte eine riesige, schwarze Dampflokomotive in den Bahnhof ein. Sie war viel größer als alle anderen Züge. Gewaltige rote Räder drehten sich, angetrieben von einer glänzenden Stahlstange, die sich vor und zurück bewegte. Oben auf dem Kessel stieß sie rhythmisch weiße Dampfwolken aus. „Tschuff-fuff-fuff…“ Sie atmete!
Die Lokomotive bremste mit einem lauten Zischen und Knarren und hielt genau vor Leos Bank. Ein Mann mit einem rußverschmierten, aber freundlichen Gesicht und einer Mütze auf dem Kopf lehnte sich aus dem Führerhaus. Er war der Lokführer. Er sah Leos staunendes Gesicht und seine großen, leuchtenden Augen.
Der Lokführer lächelte und legte einen Finger an seine Lippen, als hätte er ein Geheimnis. Dann zog er an einer langen Schnur. Ein ohrenbetäubender, aber wundervoller Pfiff ertönte nur für Leo. „TUUUUUUUT!“
Leo hielt sich die Ohren zu, aber er lachte vor Freude. Dieser Zug war lebendig! Er war kein Flitzer und kein Riese, er war ein Drache! Ein freundlicher, schnaufender Eisendrache.
Der Lokführer winkte ihm zu, und Leo winkte mit beiden Händen zurück, so schnell er konnte. Nach ein paar Minuten setzte sich der schnaufende Riese langsam wieder in Bewegung. Mit einem lauten Ruckeln und einem tiefen „Tschuff, tschuff, tschuff“ verließ er den Bahnhof und ließ eine Wolke aus warmem, harmlosen Dampf zurück, die nach Kohle und Abenteuer roch.
Leo stand noch lange da und schaute dem Zug hinterher, bis auch die letzte Dampfwolke am Himmel verschwunden war.
Auf dem Heimweg war Leo ganz still. „Na, was sagst du zu unserem Besucher?“, fragte Opa. Leo sah zu ihm auf, seine Augen strahlten immer noch. „Opa“, sagte er mit ernster Stimme. „Wenn ich groß bin, werde ich Lokführer. Aber nicht von irgendeinem Zug. Ich werde der Führer eines schnaufenden Riesen.“
Opa lächelte und drückte seine Hand. An diesem Abend schlief Leo tief und fest ein und träumte vom Klick-klack der Räder und dem fröhlichen Tuten einer Dampflok, die ihn mit auf eine Reise in ein fernes, aufregendes Land nahm.



















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