Wenn Blätter fliegen lernen

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Hoch oben in der Krone eines riesigen, alten Eichenbaums, wo die Blätter im Sommer am grünsten und die Sonnenstrahlen am wärmsten waren, lebten drei kleine Blätter. Sie waren die allerbesten Freunde.

Da war Leo. Leo war kühn und stark. Sein Rand war perfekt gezackt und er liebte es, im Wind zu rauschen und so zu tun, als wäre er der König aller Blätter. Dann war da Mia. Mia war sanft und neugierig. Sie hatte eine wunderschöne, glatte Oberfläche und verbrachte ihre Tage damit, die Vögel zu beobachten, die in ihren Zweigen landeten, und den Wolken nachzuschauen, die wie große, weiße Schiffe über den Himmel zogen. Und schließlich gab es Finn. Finn war ein wenig schüchtern und nachdenklich. Er hielt sich immer ganz fest an seinem Ast fest und mochte es am liebsten, wenn alles so blieb, wie es war.

Den ganzen Sommer über lachten und spielten die drei Freunde. Sie lauschten dem Summen der Bienen, genossen die warmen Sonnenstrahlen auf ihren grünen Bäuchen und erzählten sich Geschichten von den Sternen, die sie in klaren Nächten funkeln sahen. Ihr Zuhause, die große alte Eiche, war die beste Welt, die sie sich vorstellen konnten.

Doch als die Tage kürzer wurden und die Sonne nicht mehr ganz so kräftig wärmte, begann sich etwas zu verändern. Eines Morgens wehte ein kühler Wind durch die Äste, der anders war als der sanfte Sommerwind. Er flüsterte von Veränderung und Abschied.

Finn bemerkte es als Erster. „Spürt ihr das?“, fragte er und zitterte ein wenig. „Die Luft fühlt sich so… so anders an.“

Mia drehte sich neugierig zum Wind. „Ja“, sagte sie. „Sie riecht nach Äpfeln und feuchter Erde.“

Leo lachte. „Ach was, das ist nur ein frischer Wind! Er will mit uns fangen spielen!“ Er schaukelte kräftig hin und her und genoss das Kribbeln.

Doch bald sahen sie, dass es nicht nur der Wind war. Ein älteres Blatt in ihrer Nähe, das den ganzen Sommer über weise und ruhig gewesen war, bekam plötzlich einen leuchtend gelben Rand. Tag für Tag wurde das Gelb kräftiger, bis das ganze Blatt wie ein kleines Stück eingefangener Sonnenschein aussah.

Die drei Freunde staunten. „Was passiert mit ihm?“, flüsterte Finn besorgt.

Bald darauf begannen auch andere Blätter, sich zu verwandeln. Einige wurden feuerrot, andere leuchtend orange und wieder andere bekamen ein tiefes, sattes Braun. Der ganze Baum verwandelte sich langsam in ein Meer aus warmen, leuchtenden Farben.

Eines Morgens wachte Leo auf und entdeckte leuchtend rote Streifen auf seinem eigenen grünen Kleid. Er war begeistert! „Seht nur!“, rief er stolz. „Ich sehe aus wie ein kleiner Krieger!“

Kurz darauf bekam auch Mia einen zarten, goldenen Schimmer. Wenn die Sonne durch die Äste blinzelte, funkelte sie wie ein echter Schatz. Sie drehte und wendete sich im Licht und konnte gar nicht genug von ihrer neuen Farbe bekommen.

Nur Finn blieb grün. Doch dann, eines Nachmittags, entdeckte er einen kleinen, blassgelben Fleck an seiner Spitze. Panik stieg in ihm auf. Er wollte nicht gelb werden! Er wollte grün bleiben, sicher und fest an seinem Ast. Grün war die Farbe des Sommers, des Lebens und der Sicherheit. Gelb war die Farbe der Veränderung, die Farbe des Unbekannten.

Er klammerte sich noch fester an seinen Zweig. „Ich will mich nicht verändern!“, rief er traurig. „Ich will, dass alles so bleibt, wie es ist!“

Das weise, alte Blatt, das nun vollständig goldgelb war und den Namen Arthur trug, hörte Finns verzweifelte Worte. Sanft raschelte es zu ihm herüber. „Hab keine Angst, kleiner Freund“, flüsterte Arthur mit einer Stimme, die klang wie das Knistern von trockenem Laub.

„Aber warum passiert das?“, fragte Finn. „Vergehen wir?“

Arthur lächelte weise. „Nein, wir vergehen nicht. Wir bereiten uns auf ein großes Abenteuer vor. Es nennt sich der Große Tanz des Herbstes.“ Er erzählte ihnen von den Jahreszeiten, einem unendlichen Kreislauf. Er erklärte, dass die Bäume im Winter ruhen müssen, um im Frühling wieder stark und voller neuer, grüner Blätter zu sein. „Indem wir unsere Farben wechseln und loslassen“, erklärte Arthur, „geben wir dem Baum unsere ganze Kraft zurück. Und wenn wir fallen, werden wir zu einer warmen Decke für die schlafenden Samen in der Erde.“

„Fallen?“, fragte Mia mit großen Augen. „Das klingt unheimlich.“

„Oh, nein“, sagte Arthur. „Es ist das Allerschönste. Für einen kurzen Moment kann man fliegen. Man tanzt und wirbelt mit dem Wind und sieht die Welt von oben. Es ist ein letztes, fröhliches Hurra, bevor wir uns zur Ruhe legen.“

Diese Worte beruhigten Finn ein wenig, auch wenn ihm der Gedanke, seinen sicheren Ast zu verlassen, immer noch Angst machte.

Ein paar Tage später kam ein stärkerer Wind. Er sauste durch die Äste und rüttelte an allen Blättern. Plötzlich ließ Arthur los. Er fiel nicht einfach hinunter, er schwebte! Er drehte sich in eleganten Pirouetten, ein goldener Wirbel in der blauen Luft, bevor er sanft auf dem Waldboden landete.

„Wow!“, rief Leo. „Seht ihr das? Er tanzt!“ Leos Abenteuerlust war geweckt. Er konnte es kaum erwarten, an der Reihe zu sein.

Der Wind wurde stärker. Überall um sie herum ließen Blätter los und begannen ihre Reise. Es war ein atemberaubender Anblick – ein Regen aus Rot, Gold und Orange.

„Ich bin bereit!“, schrie Leo und wackelte aufgeregt. „Wind, hol mich!“ Und der Wind tat ihm den Gefallen. Mit einem kräftigen Ruck löste sich Leo und sauste davon wie ein kleines, rotes Flugzeug. „Juhuuu!“, hörten sie ihn noch rufen.

Mia schaute ihm nach, ihr Herz klopfte. Es sah so wunderschön aus. Sie sah zu Finn, der sich mit aller Kraft an seinen Ast klammerte. „Hab keine Angst, Finn“, sagte sie sanft. „Wir werden unten alle zusammen sein. Eine große, bunte Kuscheldecke.“

Der Wind zupfte nun auch an Mias Stiel. Sie atmete tief durch, dachte an Arthurs Worte vom Fliegen und Tanzen und ließ los. Sie wirbelte und drehte sich, eine goldene Ballerina im Herbsthimmel. Es war ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit und Freude.

Nun war Finn das letzte Blatt an ihrem kleinen Zweig. Er war ganz allein. Unter sich sah er das bunte Meer seiner Freunde. Er sah Leo und Mia, die sanft auf dem Boden gelandet waren. Er spürte den Wind, der ihn rief. Es war der Moment der Entscheidung. Er dachte an den langen, glücklichen Sommer. Er dachte an die Geschichten von Arthur. Er dachte an seine Freunde, die auf ihn warteten.

Er schloss seine Augen, atmete den kühlen Herbstduft ein und flüsterte: „Okay, ich bin bereit.“

Er lockerte seinen Griff. Der Wind erfasste ihn sanft, hob ihn hoch und trug ihn davon. Finn öffnete die Augen und ihm stockte der Atem. Er flog! Er schwebte! Es war nicht beängstigend, es war magisch. Für einen kurzen Moment sah er den ganzen Wald, den Bach, der sich wie ein silbernes Band hindurchschlängelte, und seinen Baum, seine mächtige Mutter Eiche, in all ihrer herbstlichen Pracht.

Ganz sanft landete er neben Mia und Leo auf dem weichen Laubboden. Seine Freunde raschelten zur Begrüßung. Sie lagen dicht beieinander, eine warme, bunte Decke unter dem großen Baum. Sie waren wieder vereint.

Sie lauschten dem Wind, der über sie hinwegstrich und neue tanzende Blätter herbeibrachte. Hier unten, auf dem Boden, flüsterten sie sich ihre Geschichten vom Fliegen zu und träumten von der stillen Ruhe des Winters und dem Versprechen eines neuen Frühlings, der eines Tages ihre Mutter Eiche wieder in saftiges Grün kleiden würde. Das große Abenteuer war nicht zu Ende, es hatte sich nur verwandelt. Und es war wunderschön.


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