Das Gruselkabinett des Kapitäns

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Der Herbstjahrmarkt von Neustadt war in vollem Gange. Die Luft war ein einziges, fröhliches Durcheinander aus Düften: süße Zuckerwatte mischte sich mit dem herzhaften Geruch von gebrannten Mandeln und dem würzigen Aroma von Bratwürsten. Die Melodien von drei verschiedenen Karussells spielten gleichzeitig um die Wette, übertönt vom Jauchzen der Kinder in der Achterbahn und dem lauten „Hau den Lukas“-Hammer, der auf die Glocke schlug. Finn, zehn Jahre alt und ein selbsternannter Jahrmarkts-Experte, stand mitten in diesem bunten Trubel und wusste genau, was er als Nächstes tun wollte.

„Komm, Leo!“, rief er seinem besten Freund zu. „Lass uns zum Riesenrad, von oben können wir alles sehen!“

Doch Leo schüttelte den Kopf. Sein Blick war auf das andere Ende des Festplatzes gerichtet, auf einen Ort, der so gar nicht in das fröhliche Bild passen wollte. Dort, wo sonst immer das harmlose Ponyreiten stattfand, ragte in diesem Jahr ein gewaltiges, düsteres Gebilde in den Abendhimmel. Es war der Eingang zu einer neuen Attraktion, und über dem Eingang prangte ein verwittertes Schild, auf dem in knorrigen Buchstaben stand: „Das Gruselkabinett des Kapitäns Geisterzahn“.

Der Eingang selbst war gestaltet wie der weit aufgerissene Rachen eines riesigen, verfluchten Totenkopfes aus schwarzem Holz. Aus den leeren Augenhöhlen waberte grüner Nebel und aus dem Inneren drang keine fröhliche Musik, sondern ein tiefes, unheilvolles Ächzen, als würde ein riesiges Schiff im Sterben liegen.

„Vergiss das Riesenrad“, flüsterte Leo ehrfürchtig und zeigte mit dem Finger auf den Totenkopf. „Hast du davon gehört? Das soll die gruseligste Geisterbahn sein, die es je gab. Tim aus der Parallelklasse hat sich angeblich fast in die Hose gemacht. Und seine große Schwester hat geschrien wie am Spieß.“

Finn spürte, wie ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, der nichts mit der kühlen Oktoberluft zu tun hatte. Er liebte den Jahrmarkt, aber mit Geisterbahnen hatte er es nicht so. Die zuckenden Plastik-Skelette und die plötzlichen „Buh!“-Rufe aus den Lautsprechern fand er eher lahm. Aber diese hier… diese hier sah anders aus. Sie sah echt aus.

„Ach was“, sagte Finn und versuchte, mutiger zu klingen, als er sich fühlte. „Das ist doch nur Gerede. Bestimmt auch nur ein paar Spinnenweben aus Watte und ein paar Angestellte in Gummimasken.“

„Bist du sicher?“, forderte Leo ihn heraus, ein spöttisches Grinsen auf den Lippen. „Ich wette, du traust dich nicht. Ich wette, du hast Angst.“

Das war eine Herausforderung, der Finn nicht ausweichen konnte. Niemals würde er zugeben, dass die leeren, nebelverhangenen Augen des Totenkopfes ihm eine Gänsehaut verursachten. „Angst? Ich doch nicht!“, prahlte er. „Na los, gehen wir. Aber wehe, du kneifst!“

Mit pochenden Herzen schoben sie sich durch die Menge in Richtung der unheimlichen Attraktion. Je näher sie kamen, desto lauter wurde das Ächzen und Stöhnen, das aus dem Inneren drang. Es klang wie der Wind, der durch die Takelage eines Geisterschiffs heult. Der grüne Nebel roch modrig, nach feuchtem Holz und Salzwasser. Vor dem Eingang stand ein Kassenhäuschen, das aussah wie eine alte Schatztruhe. Darin saß ein Mann mit einer Augenklappe und einem langen, grauen Bart. Er sprach kein Wort, als Finn ihm zitternd das Geld für zwei Fahrten hinhielt. Er nahm die Münzen nur mit einer knochigen Hand und schob ihnen zwei Tickets zu, die wie alte, zerfledderte Schatzkarten aussahen.

„Viel… Glück“, krächzte er, als sie weitergingen, und es klang mehr wie eine Warnung als wie ein Wunsch.

Sie stellten sich in die kurze Warteschlange. Die Wägen der Geisterbahn sahen nicht aus wie die üblichen bunten Gondeln. Es waren kleine, schwarze Kisten, die wie Särge auf Schienen aussahen. Jedes Mal, wenn ein Wagen aus dem Totenkopfschlund wieder herauskam, saßen die Insassen bleich und mit weit aufgerissenen Augen darin. Manche lachten hysterisch, andere starrten nur stumm vor sich hin.

„Vielleicht sollten wir doch lieber zum Riesenrad“, murmelte Finn leise, doch da öffnete sich auch schon die Tür zu ihrem Sarg-Wagen. Ein Ruck, und sie saßen drin. Die Tür schloss sich mit einem lauten, endgültigen KLONK und sie waren in absoluter Finsternis gefangen.

„Siehst du? Nur dunkel“, flüsterte Finn tapfer, aber seine Stimme zitterte. „Ich sehe gar nichts“, flüsterte Leo zurück, und zum ersten Mal klang auch er ein wenig unsicher.

Ein lautes Knarren ertönte und der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Er fuhr nicht, er schlich. Zuerst hörten sie nur das Tropfen von Wasser, das rhythmisch auf Stein zu fallen schien. Platsch. Platsch. Platsch. Es wurde kälter. Eiskalte Nebelschwaden zogen durch den Wagen und strichen Finn über die Arme. Er zog die Schultern hoch und rückte näher an Leo heran.

Plötzlich zuckte ein Blitz auf und erhellte für den Bruchteil einer Sekunde eine Szene, die Finn den Atem raubte. Sie waren in einer Art Höhle, die Wände nass und glitschig. Und überall um sie herum saßen Skelette in zerfetzten Piratenkleidern an Holztischen. Sie spielten Karten mit vergilbten Knochenhänden, in ihren leeren Augenhöhlen glimmte ein schwaches, rotes Licht. Eines der Skelette, direkt neben ihrem Wagen, drehte langsam den Kopf und starrte sie an. Sein knochiger Kiefer klappte auf, als wollte er schreien, doch es kam kein Ton. Der Blitz erlosch und es war wieder stockfinster.

„Hast du das gesehen?“, keuchte Leo. Finn konnte nur nicken, auch wenn Leo es nicht sehen konnte. Sein Herz hämmerte gegen seine Rippen wie ein gefangener Vogel. Das waren keine wackeligen Plastikfiguren gewesen. Das sah… echt aus.

Der Wagen rollte weiter, tiefer hinein in die Dunkelheit. Nun hörten sie Stimmen. Ein leises, geisterhaftes Flüstern, das von allen Seiten zu kommen schien. „Verflucht… auf ewig verflucht…“, wisperte eine Stimme direkt in Finns Ohr. Er zuckte zusammen und schlug mit der Hand in die Leere. Er spürte etwas Kaltes, Feuchtes, wie Spinnweben, die sich an seiner Haut festklammerten. Er wischte sie panisch weg.

Ein Rumpeln und Poltern ließ den ganzen Wagen erzittern. Wieder zuckten Blitze auf, begleitet von ohrenbetäubendem Donner. Sie waren nun auf dem Deck eines Schiffes mitten in einem tosenden Sturm. Echte Wassertropfen peitschten ihnen ins Gesicht. Durch den Lärm des Gewitters hörten sie Schreie – die Schreie einer ertrinkenden Mannschaft. Schemenhafte, durchsichtige Gestalten von Matrosen klammerten sich an die Reling, ihre Gesichter zu stummen Schreien verzerrt, bevor eine riesige, gemalte Welle sie mit sich riss.

Finn schloss die Augen. Er wollte, dass es aufhörte. Das war zu viel. Das war kein Spaß mehr, das war purer Schrecken. Er spürte, wie Leo neben ihm zitterte. Der große Angeber hatte kein Wort mehr gesagt.

Der Sturm legte sich und der Wagen glitt in eine unheimliche Stille. Sie fuhren an der Kajüte des Kapitäns vorbei. Durch ein Bullauge konnten sie ihn sehen: Kapitän Geisterzahn saß an einem Tisch, über eine Schatzkarte gebeugt. Er war ein Geisterbild, durchscheinend und von einem bläulichen Licht erfüllt. Langsam, wie in Zeitlupe, hob er den Kopf. Sein Gesicht war von Narben zerfurcht und wo sein linkes Auge sein sollte, klaffte ein schwarzes Loch. Er blickte sie direkt an, öffnete den Mund, aus dem ein einziger, verrotteter Zahn ragte, und stieß einen markerschütternden, heulenden Schrei aus.

Finn und Leo schrien gleichzeitig auf. Der Wagen beschleunigte plötzlich, raste durch einen engen, dunklen Tunnel. Kalte, gummiartige Dinge peitschten von der Decke herab und streiften ihre Gesichter. Fühlte sich das an wie Seetang? Oder wie die Tentakel eines Seeungeheuers?

Und dann, als sie dachten, es könnte nicht schlimmer werden, hielt der Wagen an. Vollkommene Stille. Vollkommene Dunkelheit. „Was ist los?“, flüsterte Leo panisch. „Stecken wir fest?“

Ein tiefes, gurgelndes Geräusch ertönte von unter ihnen. Langsam, ganz langsam, erhellte sich die Szene vor ihnen. Sie standen am Rande eines tiefen, unterirdischen Sees. Das Wasser war schwarz und unbewegt. Doch dann kräuselte sich die Oberfläche. Etwas Großes stieg aus der Tiefe empor.

Zuerst sahen sie nur zwei riesige, gelb leuchtende Augen, groß wie Scheinwerfer, die sie aus der Dunkelheit anstarrten. Dann tauchten riesige, schleimige Tentakel auf, die sich peitschend aus dem Wasser erhoben und auf ihren Wagen zuschlugen. Ein gewaltiges Meeresungeheuer, ein Kraken, war direkt vor ihnen! Einer der Tentakel schnellte direkt auf sie zu. Er war so nah, dass sie den modrigen Geruch des Tiefseeschlamms riechen konnten, der an ihm klebte.

Das war der Moment, in dem jede gespielte Tapferkeit zerbrach. Finn und Leo schrien aus vollem Halse, pressten sich aneinander und warteten auf den unausweichlichen Aufprall.

Doch der Tentakel hielt direkt vor ihren Gesichtern an. Und im nächsten Moment schossen sie mit unglaublicher Geschwindigkeit rückwärts. Der Kraken, der Kapitän, der Sturm, die Skelette – alles flog in umgekehrter Reihenfolge an ihnen vorbei. Ein letzter Schrei, ein letztes Aufblitzen, und dann…

KLONK.

Eine Tür sprang auf und grelles, buntes Jahrmarktslicht blendete ihre Augen. Die fröhliche Musik der Karussells drang an ihre Ohren. Sie waren wieder draußen. Die Fahrt war vorbei.

Finn und Leo saßen wie erstarrt in ihrem Wagen. Sie atmeten schwer, ihre Herzen rasten wie wild. Finns Hände waren schweißnass und er zitterte am ganzen Körper. Langsam drehte er seinen Kopf zu Leo. Leos Gesicht war kreidebleich, seine Haare standen zu Berge, aber in seinen Augen funkelte etwas, das Finn überraschte: pure Begeisterung.

Ein Mitarbeiter mit einem gelangweilten Gesichtsausdruck öffnete ihre Wagentür vollständig. „Alles in Ordnung bei euch, Jungs?“

Finn und Leo stolperten aus dem Wagen wie zwei alte Männer. Sie lehnten sich gegen den Zaun, blinzelten in die Sonne und versuchten, ihre zittrigen Beine unter Kontrolle zu bekommen.

„Das… das…“, stammelte Finn. „…war der absolute Wahnsinn!“, beendete Leo den Satz und ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Hast du den Kraken gesehen? Und die Skelette? Und der Schrei vom Kapitän! Das war nicht aus dem Lautsprecher, das war… das war atemberaubend!“

Jetzt, wo der Schock nachließ, merkte auch Finn, wie das Adrenalin in seinem Körper einem anderen Gefühl wich. Einem Gefühl von unbändiger Aufregung. Der Schrecken war verflogen und was blieb, war die Erinnerung an ein unglaubliches Abenteuer. Es war so perfekt gemacht, so erschreckend echt, dass es am Ende einfach nur genial war. Die Kälte, das Wasser, die Geräusche – es war, als wären sie wirklich auf einem Geisterschiff gewesen. Der Grusel war so intensiv gewesen, dass die Erleichterung danach sich wie ein Sieg anfühlte.

Finn begann zu lachen. Zuerst leise, dann immer lauter. Leo stimmte mit ein. Sie lachten, bis ihnen die Tränen kamen, lachten über ihre eigene Angst und darüber, wie fantastisch diese Geisterbahn war.

Sie sahen sich an, ihre Augen leuchteten vor Aufregung, die Gesichter immer noch ein wenig blass, die Herzen schlugen immer noch schnell. Sie brauchten keine Worte. Sie dachten genau dasselbe.

Finn war der Erste, der es aussprach. Mit einer Stimme, die immer noch ein wenig zittrig war, aber voller neuer Entschlossenheit, sagte er: „Komm. Wir fahren sofort nochmal!“


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