Finn, Jule und die Flaschenpost

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An der Küste, wo der Wind Drachen steigen lässt und die Wellen unermüdlich das Lied des Meeres singen, stand ein kleines, rot-weiß gestreiftes Haus. In diesem Haus lebten zwei Geschwister, Finn und Jule.

Finn war zehn Jahre alt und hatte Haare so hell wie der Sand an einem Sommertag. Er war der Abenteurer, der Kartenzeichner, der Kapitän jedes umgedrehten Fischerbootes. Er kannte die Namen aller Vögel, die am Himmel kreisten, und wusste genau, wann die Flut kam und wann sie wieder ging.

Jule war sieben und ihre Augen hatten die Farbe des Meeres an einem stürmischen Tag – ein tiefes, geheimnisvolles Blau. Sie war die Träumerin, die Geschichtensammlerin, die Künstlerin. Während Finn die Welt vermaß, malte Jule sie in den buntesten Farben. Sie sammelte keine Steine, sondern „Dracheneier“, und keine Muscheln, sondern „Schatzkisten der Meerjungfrauen“.

An einem grauen Herbstnachmittag, als der Regen unablässig gegen die Fensterscheiben trommelte und der Wind heulend um die Hausecken pfiff, saßen die beiden Geschwister in ihrem Zimmer und die Langeweile war ein zäher Kaugummi, der sich einfach nicht vertreiben ließ.

„Ich wünschte, wir könnten ein richtiges Abenteuer erleben“, seufzte Finn und ließ sein kleines Holzschiff in einer Wasserpfütze auf der Fensterbank kentern.

Jule, die gerade einen Leuchtturm mit einem Gesicht malte, legte ihren Pinsel nieder. „Ein Abenteuer kommt nicht einfach so. Man muss es rufen.“

Finn richtete sich auf. „Rufen? Wie denn?“

Jules Augen leuchteten auf. „Mit einer Flaschenpost!“

Die Idee traf Finn wie ein Blitz. Natürlich! Eine Flaschenpost! Das war die Sprache der Seefahrer, der Schiffbrüchigen, der Entdecker. Es war die perfekte Mischung aus Finns Abenteuerlust und Jules Träumerei.

Sofort stürmten sie los. Im Schuppen ihres Opas, der nach Teer, Salz und alten Geschichten roch, fanden sie, was sie suchten. Versteckt hinter einem Stapel alter Fischernetze stand eine wunderschöne, bauchige Glasflasche. Sie war nicht grün oder braun wie die meisten Flaschen, sondern aus einem klaren Glas, durch das das Licht tanzte. Sie hatte sogar noch einen alten Korken, der perfekt in die Öffnung passte.

Zurück im warmen Haus machten sie sich an die Arbeit. Sie brauchten eine Botschaft. „Wir müssen schreiben, wer wir sind“, sagte Finn und holte sein bestes Briefpapier, das mit einem kleinen Anker verziert war. Er schrieb in seiner ordentlichsten Schrift:

Hallo, du unbekannter Finder!

Mein Name ist Finn und das ist die Handschrift meiner Schwester Jule, die lieber malt als schreibt. Wir wohnen in einem kleinen Haus direkt an der See. Jeden Morgen wecken uns die Möwen und jeden Abend singen uns die Wellen in den Schlaf. Unser Leuchtturm heißt „Alter Ole“ und er blinzelt die ganze Nacht, damit die Schiffe den Weg nach Hause finden.

Er hielt inne und sah Jule an. „Was sollen wir noch schreiben?“

Jule überlegte kurz, ihre Stirn in Falten gelegt. „Wir müssen Fragen stellen! Sonst bekommen wir vielleicht keine Antwort.“ Sie diktierte:

Wer bist du? Wo lebst du? Gibt es bei dir auch Leuchttürme und Möwen? Oder vielleicht ganz andere Dinge? Palmen? Bunte Vögel? Oder vielleicht fliegende Fische? Bitte erzähl uns von deiner Welt.

Unter den Text malte Jule mit ihren Buntstiften ein wunderschönes Bild. Sie malte ihr rot-weißes Haus, den großen Leuchtturm „Alter Ole“ mit seinem zwinkernden Auge, und am Strand malte sie sich und Finn, wie sie winkten. Die Wellen malte sie mit kleinen, lachenden Gesichtern.

Zufrieden rollten sie das Papier vorsichtig zusammen und banden ein Stück blauen Wollfaden darum, den sie aus Mamas Nähkorb stibitzt hatten. Sie schoben die kleine Schriftrolle in die Flasche und verschlossen sie fest mit dem alten Korken. Um ganz sicherzugehen, dass kein Tropfen Wasser eindringen konnte, tropften sie heißes Wachs von einer roten Kerze um den Rand des Korkens, genau wie es die Piraten in ihren Büchern taten.

Am nächsten Tag hatte der Sturm sich gelegt. Die Luft war klar und salzig, und die Sonne ließ das aufgewühlte Meer wie eine Kiste voller Diamanten glitzern. Warm eingepackt in ihre Jacken und Mützen, liefen Finn und Jule hinunter zum Strand. Sie kletterten auf die höchste Düne, von wo aus man das Meer bis zum Horizont überblicken konnte.

„Bereit?“, fragte Finn und hielt die Flasche in beiden Händen. Sie fühlte sich schwer und wichtig an.

Jule nickte aufgeregt. „Wirf sie weit! Bis hinter die dritte Welle!“

Finn nahm Anlauf. Mit aller Kraft schwang er seinen Arm und die Flasche flog in einem hohen Bogen durch die Luft. Sie glitzerte kurz in der Sonne, bevor sie mit einem leisen „Platsch“ in das kalte Wasser eintauchte. Für einen Moment verschwand sie unter der Oberfläche, dann tauchte sie wieder auf und begann, auf den Wellen zu tanzen – ein kleiner, gläserner Bote auf einer unendlich großen Reise.

Finn und Jule sahen ihr nach, bis sie nur noch ein winziger Punkt am Horizont war. „Gute Reise“, flüsterte Jule. „Und komm mit einer Antwort zurück.“

Die Tage wurden zu Wochen und die Wochen zu Monaten. Der Herbst verabschiedete sich mit bunten Blättern und machte Platz für den kalten Winter. Der Wind wurde eisig, manchmal lag eine dünne Schicht Schnee auf den Dünen und das Meer sah aus wie grauer Stahl. Finn und Jule bauten Schneemänner, tranken heißen Kakao und dachten immer seltener an ihre Flaschenpost. Sie war ein Herbstgeheimnis, das langsam unter dem Schnee des Winters begraben wurde.

Der Frühling kam und mit ihm die ersten warmen Sonnenstrahlen. Die Zugvögel kehrten zurück und die Welt wurde wieder grün. Die Kinder verbrachten ihre Nachmittage wieder am Strand, aber ihre Blicke suchten nicht mehr den Horizont nach einer kleinen, gläsernen Flasche ab. Das Abenteuer schien vergessen.

Eines sonnigen Tages im Juni, fast acht Monate nachdem sie ihre Flasche auf die Reise geschickt hatten, kam der Postbote auf seinem quietschenden Fahrrad die Straße entlang. Er hielt vor ihrem Haus und kramte in seiner großen Tasche. Aber anstatt eines Briefes zog er ein kleines, seltsames Päckchen heraus. Es war in braunes Papier gewickelt und mit bunten, exotisch aussehenden Briefmarken beklebt, die Vögel in allen Farben des Regenbogens zeigten. Der Absender war mit krakeligen Buchstaben geschrieben, die sie kaum entziffern konnten.

„Für Finn und Jule“, sagte der Postbote und zwinkerte ihnen zu. „Sieht aus, als käme das von weit her.“

Neugierig nahmen die Geschwister das Päckchen entgegen. Es war erstaunlich leicht. Sie liefen ins Haus, setzten sich an den Küchentisch und sahen sich aufgeregt an. „Mach du auf“, flüsterte Jule.

Finns Finger zitterten ein wenig, als er das Papier vorsichtig aufriss. Darin befand sich eine kleine, flache Holzkiste. Er hob den Deckel an.

Das Erste, was sie sahen, war ein zusammengefaltetes Blatt Papier, das viel weicher und faseriger war als ihr eigenes. Sie falteten es auseinander. Darauf war eine Antwort geschrieben, in einfachen, aber klaren deutschen Wörtern, so als hätte sich jemand große Mühe gegeben.

Lieber Finn und liebe Jule!

Eure Flasche ist an den Strand unserer Insel gespült worden. Mein Bruder Manu hat sie gefunden, als er nach Kokosnüssen suchte. Mein Name ist Alani und ich bin neun Jahre alt. Wir waren so aufgeregt, Post aus dem Meer zu bekommen!

Finn und Jule lasen mit großen Augen weiter.

Wir leben auf einer Insel, die von warmem, türkisfarbenem Wasser umgeben ist. Hier gibt es keine Leuchttürme, denn die Nächte sind so hell vom Mond und den Sternen, dass man sie nicht braucht. Statt Möwen haben wir Papageien, die so bunt sind wie Jules Stifte und schrecklich laut krächzen, wenn sie reife Mangos stibitzen. Wir haben auch fliegende Fische! Sie springen aus dem Wasser und sehen aus wie silberne Pfeile.

Unser Haus steht nicht auf dem Boden, sondern auf Stelzen direkt über dem Wasser. Wenn wir morgens aufwachen, können wir von unserem Fenster aus direkt ins Meer springen. In der Mitte unserer Insel gibt es einen großen, schlafenden Vulkan, den wir „Großer Riese“ nennen. Er raucht manchmal ein bisschen, aber er ist ganz friedlich.

Unter dem Brief war, genau wie bei ihnen, ein Bild gemalt. Es zeigte zwei Kinder mit dunklen Locken und brauner Haut, die vor einer strohgedeckten Hütte auf Stelzen winkten. Im Hintergrund war der große, rauchende Vulkan zu sehen, und am Himmel flogen kunterbunte Papageien. Das Meer war in den leuchtendsten Türkis- und Blautönen gemalt, die Finn und Jule je gesehen hatten.

Aber das war noch nicht alles. In der Kiste lag noch mehr. Jule griff hinein und zog vorsichtig eine Blüte hervor. Sie war getrocknet, aber man konnte immer noch erkennen, dass sie einmal in einem leuchtenden Pink gestrahlt hatte. Sie roch süß und fremdartig.

Finn fand eine Muschel. Sie war nicht wie die Muscheln an ihrem Strand. Diese hier war glatt poliert von der Strömung, und wenn man sie ins Licht hielt, schimmerte sie in allen Farben des Regenbogens. Daneben lag ein kleiner, fast schwarzer, poröser Stein. Auf der Rückseite des Briefes stand eine letzte Notiz:

Wir schicken euch eine Hibiskusblüte aus unserem Garten, eine Perlmuttschale vom Riff und einen kleinen Stein vom Großen Riesen. So habt ihr ein Stück von unserer Welt bei euch.

Schreibt uns bald wieder! Eure neuen Freunde, Alani und Manu

Finn und Jule waren sprachlos. Sie starrten auf die Schätze in der Kiste. Sie hielten die schillernde Muschel an ihr Ohr, aber anstatt des Rauschens ihrer heimischen Nordsee hörten sie ein leises Flüstern, das von Palmenstränden und warmem Wind zu erzählen schien. Sie rochen an der exotischen Blüte und stellten sich vor, wie es sein musste, in einem Garten voller solcher Wunder zu spielen. Der kleine, raue Vulkanstein fühlte sich warm und lebendig in Finns Hand an.

Es war real. Ihre kleine, im Herbstwind geworfene Flasche hatte nicht nur eine Reise über den Ozean gemacht, sie hatte auch eine Brücke gebaut. Eine Brücke aus Glas und Papier, die ihre kalte, windige Küste mit einer warmen, sonnigen Insel am anderen Ende der Welt verband.

In diesem Moment fühlte sich die Welt für Finn und Jule unendlich groß und gleichzeitig wunderbar klein an. Sie hatten nicht nur eine Antwort bekommen, sie hatten Freunde gefunden.

Finn sah Jule an, seine Augen strahlten vor Abenteuerlust. „Wir müssen ihnen sofort zurückschreiben!“

Jule nickte, ihr Gesicht leuchtete vor Freude. „Ja! Und diesmal schicken wir ihnen auch etwas von uns. Einen Bernstein, den wir am Strand gefunden haben! Und eine Feder von einer Möwe! Und ich male ihnen den Schnee im Winter!“

An diesem Nachmittag saßen die beiden Geschwister nicht aus Langeweile in ihrem Zimmer, sondern weil sie das größte und aufregendste Abenteuer ihres Lebens erlebten. Sie schrieben von Schneeballschlachten und gefrorenen Pfützen, von Drachen, die im Herbstwind tanzten, und vom gemütlichen Licht des Leuchtturms „Alter Ole“.

Ihre Flaschenpost hatte ihnen nicht nur eine Antwort gebracht, sondern auch die Erkenntnis, dass hinter dem Horizont, so weit das Auge auch reichte, andere Kinder lebten, die vielleicht ganz anders aussahen und in einer völlig anderen Welt wohnten, aber die gleiche Freude, die gleiche Neugier und die gleiche Sehnsucht nach Freundschaft in ihren Herzen trugen. Und das, so wussten Finn und Jule jetzt ganz sicher, war der größte Schatz, den das Meer ihnen jemals an den Strand spülen konnte.


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