Prinzessin Aurelia und das Flüstern des Herzens

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Im Herzen eines leuchtend grünen Königreichs, umgeben von sanften Hügeln und singenden Bächen, stand das Schloss Morgenrot. Seine Türme aus weißem Marmor funkelten in der Sonne, und seine Gärten waren so prächtig, dass die Blumen in den schönsten Farben des Regenbogens blühten. In diesem Schloss lebte Prinzessin Aurelia.

Aurelia hatte alles, was sich ein Kind nur wünschen konnte. Sie hatte Kleider aus Seide, die im Licht schimmerten, ein Zimmer voller handgefertigtem Spielzeug und ein Pony mit einer Mähne so weich wie Wolken. Doch trotz all des Glanzes fühlte sich Aurelia oft einsam. Ihr Tagesablauf war streng geregelt: Unterricht in höfischer Etikette, Lektionen in Geografie und Geschichte und endlose Anproben für königliche Feste. Sie sehnte sich nach etwas anderem, nach etwas Echtem.

Ihr liebster Ort war ein kleiner, versteckter Teil des Schlossgartens. Dort gab es eine alte Steinmauer, die mit Efeu bewachsen war. Hinter einer dicken Ranke hatte sie vor Jahren eine kleine, quietschende Holztür entdeckt, die niemand sonst zu kennen schien. Diese Tür war ihr Geheimnis. Wenn die Last der Krone zu schwer auf ihren Gedanken lag, schlüpfte sie hindurch und fand sich auf einer Wiese voller wilder Blumen wieder, die zu den Feldern und Wäldern des Königreichs führte.

Eines warmen Nachmittags, als die Sonne golden auf die Ähren der Weizenfelder schien, schlüpfte Aurelia wieder einmal durch ihre geheime Tür. Sie zog ihr einfaches Leinenkleid an, das sie für diese Ausflüge versteckt hielt, und ließ ihre schwere Krone im Schloss zurück. Barfuß lief sie durch das hohe Gras, lachte, als ein Schmetterling auf ihrer Nase landete, und fühlte sich freier als je zuvor.

Ihr Weg führte sie zu einem kleinen Bach, dessen Wasser klar und kühl über glatte Kieselsteine plätscherte. Dort, am Ufer, sah sie ihn zum ersten Mal. Ein Junge, vielleicht ein oder zwei Jahre älter als sie, kniete am Wasser und versuchte, einem kleinen, zitternden Rehkitz zu helfen, das sich im Schilf verfangen hatte. Er hatte strohblondes Haar, das ihm in die Stirn fiel, und seine Hände, obwohl von der Arbeit auf dem Feld rau, bewegten sich sanft und vorsichtig.

Aurelia blieb wie erstarrt stehen und beobachtete ihn. Der Junge sprach leise und beruhigend auf das Rehkitz ein. „Keine Angst, Kleines. Ich tue dir nichts. Wir kriegen dich da schon raus.“ Nach einer Weile hatte er das Kitz befreit. Es stupste ihn einmal dankbar mit seiner feuchten Nase an die Wange, bevor es zu seiner Mutter in den nahen Wald sprang.

Der Junge lächelte, und in diesem Moment schien für Aurelia die ganze Welt stillzustehen. Sein Lächeln war so warm und echt wie die Sonne selbst. Als er aufstand und sich umdrehte, bemerkte er sie. Seine Augen, so blau wie der Sommerhimmel, weiteten sich überrascht.

„Oh, Verzeihung“, sagte er und wischte sich die erdigen Hände an seiner Hose ab. „Ich habe dich gar nicht bemerkt.“

Aurelia wurde rot. „Ich… ich wollte nicht stören. Das war sehr freundlich von dir, wie du dem Kitz geholfen hast.“

Der Junge zuckte mit den Schultern. „Das ist doch selbstverständlich. Alle Lebewesen verdienen Güte.“ Er musterte sie neugierig. „Ich habe dich hier noch nie gesehen. Bist du neu in der Gegend?“

Aurelia geriet in Panik. Sie konnte ihm unmöglich sagen, dass sie die Prinzessin war. Er würde sie anders behandeln, sich verbeugen und steif werden. Sie wollte einfach nur Aurelia sein. „Ich… wohne in der Nähe“, log sie schnell. „Mein Name ist Lia.“

„Ein schöner Name“, sagte er lächelnd. „Ich bin Leo.“

Von diesem Tag an trafen sich „Lia“ und Leo so oft sie konnten an dem kleinen Bach. Leo war der Sohn eines Bauern, dessen Hof nur einen Hügel entfernt lag. Er erzählte ihr von der harten Arbeit auf den Feldern, von der Freude, wenn die Saat aufging, und von den Geschichten, die sein Großvater am Kaminfeuer erzählte. Er zeigte ihr, wie man die Stimmen verschiedener Vögel unterschied, wie man aus Weidenzweigen kleine Körbe flocht und welche Wolken Regen brachten.

Aurelia erzählte ihm im Gegenzug von den Büchern, die sie las – von fernen Ländern, mutigen Helden und fantastischen Kreaturen. Sie sprach aber nie über ihr Leben im Schloss. Für Leo war sie einfach Lia, ein Mädchen mit einem ansteckenden Lachen und einem unstillbaren Wissensdurst.

Mit jeder Begegnung wuchs eine zarte Zuneigung zwischen ihnen. Aurelia liebte die Art, wie Leos Augen leuchteten, wenn er von seiner Arbeit sprach. Sie liebte seine ruhige, geduldige Art und die Sicherheit, die sie in seiner Nähe empfand. Wenn sie bei ihm war, fühlte sie sich nicht wie eine Prinzessin in einem goldenen Käfig, sondern einfach wie ein Mensch. Ihr Herz machte jedes Mal einen kleinen Hüpfer, wenn er ihr eine besonders schöne Wildblume pflückte oder ihr die Hand reichte, um über einen umgestürzten Baumstamm zu klettern.

Auch Leo war von Lia fasziniert. Sie war anders als die anderen Mädchen aus dem Dorf. Sie war klug und witzig und sah die Welt mit Augen voller Wunder. Er bemerkte oft eine leise Traurigkeit in ihrem Blick, konnte sie aber nicht deuten. Er wusste nur, dass er alles dafür tun würde, um sie immer lächeln zu sehen.

Die Wochen vergingen, und der Sommer wich langsam dem Herbst. Aurelias Gefühle für Leo waren so stark geworden, dass sie manchmal das Gefühl hatte, ihr Herz würde platzen. Es war mehr als nur Freundschaft. Es war ein tiefes, warmes Gefühl, das sie ganz und gar erfüllte. Sie hatte sich unsterblich in den Bauernjungen verliebt.

Doch mit dieser Erkenntnis kam auch die Angst. Wie sollte sie es ihm sagen? Und was würde passieren, wenn er die Wahrheit über sie erfuhr? Würde er sie dann immer noch als „Lia“ sehen oder nur noch als die unerreichbare Prinzessin Aurelia? Und ihr Vater, der König, würde niemals eine Verbindung zwischen seiner Tochter, der Thronfolgerin, und einem einfachen Bauernjungen dulden. Er sprach bereits von Prinzen aus benachbarten Königreichen, die sie eines Tages heiraten sollte, um Bündnisse zu schmieden.

Diese Gedanken quälten sie Tag und Nacht. Jedes Mal, wenn sie sich vornahm, Leo die Wahrheit zu sagen, versagte ihr der Mut. Die Worte blieben ihr im Hals stecken wie ein dicker Kloß. Was, wenn sie alles zerstörte, was sie sich aufgebaut hatten? Ihre geheime Freundschaft war das Kostbarste, was sie besaß.

Eines Tages saßen sie wieder an ihrem Bach. Der Herbstwind raschelte in den bunten Blättern der Bäume. Leo hatte ihr einen Kranz aus roten und goldenen Ahornblättern geflochten und ihn ihr sanft ins Haar gelegt.

„Du siehst aus wie eine Waldkönigin“, sagte er leise und sah sie so liebevoll an, dass Aurelia der Atem stockte.

Jetzt, dachte sie. Jetzt ist der Moment. Sag es ihm!

Aber wieder brachte sie kein Wort heraus. Stattdessen fragte sie mit zitternder Stimme: „Leo, glaubst du, dass zwei Menschen aus völlig unterschiedlichen Welten jemals zusammen sein können?“

Leo runzelte die Stirn und dachte nach. „Ich glaube, es kommt nicht darauf an, woher man kommt“, antwortete er schließlich. „Es kommt darauf an, was im Herzen ist. Wenn zwei Herzen im gleichen Takt schlagen, können sie jede Mauer überwinden, egal wie hoch sie ist.“

Seine Worte gaben ihr Hoffnung, aber die Angst blieb.

Einige Tage später wurde im Schloss ein großes Herbstfest angekündigt. Ein Prinz aus einem fernen Königreich, Prinz Alaric, sollte zu Besuch kommen. Es war ein offenes Geheimnis, dass der König hoffte, Aurelia und Alaric würden sich gut verstehen. Für Aurelia fühlte es sich an, als würde sich das Netz um sie herum enger ziehen. Sie musste eine Entscheidung treffen.

Am Abend vor dem Fest schlich sie sich aus dem Schloss. Der Himmel war klar und von tausenden Sternen übersät. Sie rannte den ganzen Weg zum Bauernhof von Leos Familie. Sie wusste, dass es unvorsichtig war, aber sie konnte nicht anders.

Sie fand Leo in der Scheune, wo er das Heu für die Tiere richtete. Sein treuer Hund, Funke, bellte leise zur Begrüßung.

„Lia? Was machst du denn so spät hier?“, fragte Leo überrascht und legte seine Heugabel beiseite.

Aurelia holte tief Luft. Ihre Hände zitterten. „Leo, ich muss dir etwas sagen. Etwas sehr Wichtiges. Und ich habe schreckliche Angst davor, es zu sagen.“

Er trat näher und nahm sanft ihre Hände in seine. „Du kannst mir alles sagen, Lia. Das weißt du doch.“

Tränen stiegen ihr in die Augen. „Mein Name ist nicht Lia“, flüsterte sie. „Mein richtiger Name ist Aurelia. Ich bin… ich bin die Prinzessin.“

Leo starrte sie an. Sein Gesichtsausdruck war unleserlich. Er ließ ihre Hände nicht los, aber er sagte auch nichts. Für Aurelia fühlte sich diese Stille wie eine Ewigkeit an. Hatte sie alles zerstört?

„Eine Prinzessin?“, fragte er schließlich leise, als ob er das Wort zum ersten Mal hörte. Er trat einen Schritt zurück und musterte sie, als sähe er sie zum ersten Mal. Er sah das feine Leinen ihres Kleides, die anmutige Haltung, die sie trotz ihrer Angst nicht ablegen konnte. Plötzlich ergab alles einen Sinn: ihre feinen Hände, ihre Bildung, die Traurigkeit in ihren Augen.

Aurelias Herz brach. „Es tut mir leid, dass ich dich angelogen habe“, schluchzte sie. „Ich wollte nur… ich wollte nur, dass du mich siehst. Mich, und nicht meinen Titel.“

Leo schwieg noch einen Moment, dann trat er wieder näher. Er hob seine Hand und wischte ihr sanft eine Träne von der Wange. „Ob du Lia oder Aurelia heißt“, sagte er mit fester Stimme, „ändert nichts an der Person, die ich kennengelernt habe. Ich habe mich nicht in einen Titel verliebt.“

Aurelia sah auf. „Du hast dich… verliebt?“

Ein Lächeln huschte über Leos Gesicht. „Natürlich, du Gänschen. Ich habe mich in das Mädchen verliebt, das mit Schmetterlingen spricht, das die kühnsten Geschichten kennt und dessen Lachen klingt wie das Plätschern unseres Baches. Ich habe mich in dich verliebt.“

Erleichterung und pures Glück durchströmten Aurelia so stark, dass ihr schwindelig wurde. „Oh, Leo“, flüsterte sie. „Ich liebe dich auch. So sehr, dass es wehtut.“

In diesem Moment war es egal, dass sie eine Prinzessin und er ein Bauernjunge war. In der alten Scheune, im sanften Licht einer Laterne, waren sie einfach nur zwei Menschen, deren Herzen im gleichen Takt schlugen.

„Aber was sollen wir nur tun?“, fragte Aurelia, als sie sich wieder gefasst hatte. „Morgen kommt Prinz Alaric. Mein Vater erwartet…“

„Dann müssen wir mit deinem Vater sprechen“, sagte Leo entschlossen. „Zusammen.“

Am nächsten Tag, kurz bevor die Festlichkeiten beginnen sollten, schritt Aurelia in den Thronsaal. An ihrer Hand hielt sie fest den Bauernjungen Leo, der in seiner einfachen, aber sauberen Kleidung so viel Würde ausstrahlte wie mancher Adlige. Die Wachen und Höflinge erstarrten, als sie die beiden sahen.

König Theron saß auf seinem Thron, ein mächtiger Mann mit einem strengen, aber gerechten Gesicht. Sein Blick fiel auf die verbundenen Hände seiner Tochter und des fremden Jungen, und seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

„Aurelia? Was hat das zu bedeuten?“, donnerte seine Stimme durch den Saal.

Aurelia trat vor. Ihre Angst war verschwunden, ersetzt durch eine ruhige Entschlossenheit. „Vater“, sagte sie mit klarer Stimme. „Das ist Leo. Er ist der Mann, den ich liebe. Ich werde Prinz Alaric nicht heiraten, denn mein Herz gehört bereits ihm.“

Ein entsetztes Raunen ging durch den Saal. Der König wurde blass vor Zorn. „Du liebst einen… einen Bauern? Das ist absurd! Du bist eine Prinzessin! Deine Pflicht ist es, das Königreich zu stärken, nicht deinen kindischen Launen zu folgen!“

„Es ist keine Laune, Vater“, erwiderte Aurelia. „Leo hat mir mehr über Güte, Mut und das Leben gelehrt als jeder königliche Lehrer. Glück ist kein Bündnis und Liebe kein Vertrag. Was nützt ein starkes Königreich, wenn seine Prinzessin unglücklich ist?“

Dann trat Leo vor. Er verbeugte sich tief, aber ohne Furcht. „Majestät“, sagte er respektvoll. „Ich besitze keine Ländereien und keine Schätze. Ich kann Eurer Tochter keine Juwelen und Paläste schenken. Aber ich kann Euch mein Wort geben, dass ich sie mit meinem Leben beschützen werde. Ich werde sie ehren, sie zum Lachen bringen und jeden Tag hart arbeiten, um ihr ein glückliches Leben zu ermöglichen. Und ich verspreche Euch, dass ich Euer Königreich mit der gleichen Hingabe lieben und ihm dienen werde, wie ich dem Boden diene, der uns alle nährt.“

Der König starrte Leo lange an. Er sah die Ehrlichkeit in seinen Augen und die Stärke in seiner Haltung. Er sah zu seiner Tochter, deren Gesicht vor Liebe und Überzeugung strahlte, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Er erkannte, dass sie nicht mehr das kleine Mädchen war, das er beschützen musste, sondern eine junge Frau, die wusste, was sie wollte.

Langsam legte sich die Röte von seinem Gesicht. Er dachte über Leos Worte nach: „…wie ich dem Boden diene, der uns alle nährt.“ Darin lag eine tiefe Weisheit. Ein guter König diente seinem Volk, so wie ein guter Bauer seinem Land diente.

Schließlich seufzte der König tief. Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Es scheint, meine Tochter hat einen Mann von größerem Wert gefunden, als es jeder Titel versprechen könnte.“ Er stand auf und trat auf die beiden zu. Er legte eine Hand auf Aurelias Schulter und die andere auf Leos.

„Eine Mauer zwischen zwei liebenden Herzen zu errichten, wäre die Tat eines Tyrannen, nicht die eines Vaters. Euer Glück soll das Fundament unseres Königreichs sein.“

An diesem Tag wurde das Herbstfest zu einer Verlobungsfeier. Prinz Alaric erwies sich als guter Verlierer und wünschte dem Paar alles Glück der Welt. Aurelia und Leo, die Prinzessin und der Bauernjunge, zeigten allen, dass die Mauern zwischen den Welten nicht aus Stein, sondern nur aus Angst gebaut sind. Und dass ein mutiges Herz, das zu flüstern wagt, was es fühlt, die Kraft hat, jede dieser Mauern zum Einsturz zu bringen.


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