Shaggys wunderbare Reisen und das schönste Zuhause der Welt

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In einem Teil des Ozeans, der so blau war, dass der Himmel manchmal neidisch zu ihm hinabschaute, lag eine kleine, sonnendurchflutete Bucht. Sie wurde die Koralen-Bucht genannt, denn hier wuchsen die prächtigsten Korallen in allen Farben des Regenbogens. Es gab fächerförmige Korallen, die sanft in der Strömung wogten, Korallen, die wie knorrige Bäume aussahen, und solche, die wie kleine, zerbrechliche Türmchen in den Himmel ragten. Zwischen ihnen tanzten Schwärme von winzigen, silbernen Fischen, und auf dem weichen, weißen Sandboden krochen Seesterne in leuchtendem Orange und tiefem Lila.

Hier, in dieser perfekten kleinen Welt, war Shaggy, eine junge und sehr neugierige Meeresschildkröte, zu Hause. Shaggy liebte ihre Bucht mehr als alles andere auf der Welt. Sie liebte den Geschmack der besonderen, süßen Algen, die nur auf dem Felsen am Ostrand der Bucht wuchsen. Sie liebte es, mit ihren besten Freunden zu spielen: Krabbo, einem alten, weisen Krebs, der immer eine Geschichte zu erzählen hatte, und der quirligen Familie Flossenfein, einer Gruppe von Clownfischen, die in einer großen Anemone lebten und die besten Versteckspiele der Welt kannten.

Am allermeisten aber liebte Shaggy es, sich auf dem Rücken treiben zu lassen. Sie paddelte dann hinaus in die Mitte der Bucht, legte ihren Kopf zurück, schloss die Augen und ließ sich von den sanften Wellen schaukeln. Die Sonne wärmte ihren Panzer, und das leise Rauschen des Wassers war wie ein Schlaflied. Shaggy war eine Träumerin. Während sie so dahintrieb, stellte sie sich vor, wie die Welt jenseits ihrer Bucht wohl aussehen mochte. Krabbo hatte ihr von der Großen Blauen Strömung erzählt, einem mächtigen Meeresfluss, der weit draußen vorbeizog und Geschichten aus allen Ecken des Ozeans mit sich brachte.

An einem besonders warmen Nachmittag, nachdem sie eine besonders große Portion ihrer Lieblingsalgen gefuttert hatte, fühlte sich Shaggy sehr schläfrig. Sie paddelte an ihren Lieblingsplatz, schloss die Augen und döste ein. Sie träumte von fliegenden Fischen und singenden Walen. Doch während sie schlief, geschah etwas, das noch nie zuvor passiert war. Eine ungewöhnlich starke Gezeitenströmung erfasste die schlafende Schildkröte und zog sie langsam, ganz sanft, aus der sicheren Koralen-Bucht hinaus.

Als Shaggy die Augen wieder öffnete, war die Sonne bereits tief am Horizont. Sie blinzelte und schaute sich um. Der vertraute Felsen am Ostrand war verschwunden. Die bunten Korallen waren nicht zu sehen. Stattdessen war sie umgeben von tiefblauem Wasser. Ein wenig erschrocken merkte sie, dass sie von einer sanften, aber unaufhaltsamen Kraft vorwärtsgeschoben wurde. Es war die Große Blaue Strömung! Ihr Herz klopfte ein wenig schneller, eine Mischung aus Angst und Aufregung. Was sollte sie tun? Sie versuchte, zurückzuschwimmen, aber die Strömung war viel zu stark. Also tat Shaggy das Einzige, was sie tun konnte: Sie ließ sich treiben und schaute mit großen Augen auf die neue Welt, die an ihr vorbeizog.

Die erste Reise: Der Wald der Riesenalgen

Nach einer ganzen Nacht des Treibens wurde die Welt um Shaggy herum grüner. Riesige, lange Pflanzen schossen vom Meeresboden bis hoch zur Wasseroberfläche. Es war wie ein unterirdischer Wald, dessen Bäume im Wasser tanzten. Das Sonnenlicht fiel in grünen Streifen durch das dichte Blätterdach und malte flackernde Muster auf den Boden.

Shaggy war noch nie an einem solchen Ort gewesen. Vorsichtig schwamm sie in den Wald hinein. Hier war alles anders. Das Wasser war kühler als in ihrer Bucht. Es gab neue Geräusche, ein leises Knistern und Rascheln der riesigen Algenblätter. Verspielte Seeotter schossen an ihr vorbei, jagten sich gegenseitig und wirbelten auf dem Rücken, um mit Steinen Muscheln zu knacken. Sie luden Shaggy ein, mit ihnen zu spielen, aber sie waren ihr ein wenig zu schnell und zu stürmisch. In den Algen versteckten sich Familien von Seepferdchen, die so schüchtern waren, dass sie kaum sprachen.

Shaggy probierte die Algen. Sie waren nahrhaft, aber sie hatten nicht den süßen, vertrauten Geschmack ihrer Heimat. Der Wald war faszinierend und geheimnisvoll, aber auch ein wenig unheimlich. Die hohen Pflanzen warfen lange Schatten, und Shaggy fühlte sich klein und verloren. Sie vermisste die Weite und das helle Sonnenlicht ihrer Koralen-Bucht. Sie vermisste Krabbos ruhige Art und das fröhliche Gekicher der Flossenfeins.

„Dieser Ort ist wunderschön“, dachte sie bei sich, „aber es ist nicht mein Zuhause.“

Mit neuem Mut beschloss sie, den Rückweg zu suchen. Sie erinnerte sich, dass die Strömung sie hierher gebracht hatte, also musste sie in die entgegengesetzte Richtung schwimmen. Es war anstrengend. Ihre kleinen Flossen mussten kräftig arbeiten, um gegen die leichten Gegenströmungen anzukommen. Aber der Gedanke an ihre warme, sonnige Bucht gab ihr Kraft. Nach einem ganzen Tag des Schwimmens sah sie endlich etwas Vertrautes: die Spitze des Felsens am Ostrand!

Ein Gefühl der puren Freude durchströmte sie. Sie schwamm schneller und schneller, bis sie endlich wieder im warmen Wasser der Koralen-Bucht war. Krabbo und die Flossenfeins hatten sich schon Sorgen gemacht. Sie umringten Shaggy und fragten sie, wo sie gewesen war. Shaggy erzählte von dem riesigen, grünen Wald unter Wasser. Alle lauschten mit großen Augen. An diesem Abend schmeckten die Algen süßer als je zuvor, und das Schaukeln in den Wellen ihrer Bucht fühlte sich so sicher und geborgen an wie nie.

Die zweite Reise: Die funkelnden Kristallhöhlen

Einige Wochen vergingen. Shaggy war vorsichtiger geworden und achtete darauf, nicht mehr am Rande der Bucht einzuschlafen. Doch das Abenteuer hatte einen kleinen Samen der Neugier in ihr Herz gepflanzt. Eines Tages, als sie einer besonders schönen Muschel folgte, die von der Strömung getragen wurde, bemerkte sie nicht, wie sie wieder in den Sog eines Ausläufers der Großen Blauen Strömung geriet.

Diesmal war die Reise anders. Die Strömung zog sie in die Tiefe, dorthin, wo das Sonnenlicht kaum noch hinkam. Es wurde dunkler und dunkler, und Shaggy bekam ein wenig Angst. Doch dann sah sie ein Leuchten. Zuerst nur ein kleiner Punkt, dann immer mehr. Die Strömung trug sie in ein System von Unterwasserhöhlen. Und diese Höhlen waren magisch.

Von den Decken und Wänden wuchsen Kristalle, die in allen Farben leuchteten und ihr eigenes Licht ausstrahlten. Schwebende Quallen zogen wie sanfte Laternen durch das Wasser und tauchten alles in ein weiches, blaues und violettes Licht. Es war, als würde man durch einen Sternenhimmel schwimmen. Kleine Fische mit leuchtenden Streifen blitzten in den Ecken auf und verschwanden wieder.

Shaggy war überwältigt von der Schönheit. So etwas hatte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Ein alter, grimmig aussehender Anglerfisch mit einer eigenen kleinen Lampe auf dem Kopf beäugte sie misstrauisch, sagte aber nichts. Die Quallen schwebten elegant und schienen in ihrer eigenen Welt zu sein. Es war ein stiller, ehrfurchtgebietender Ort.

Shaggy verbrachte eine Weile in den Höhlen und bestaunte das funkelnde Schauspiel. Aber nach einiger Zeit begann sie, etwas zu vermissen. Die Wärme. Hier unten war es kalt. Und obwohl es so viel Licht gab, war es nicht das warme, lebensspendende Licht der Sonne, das ihren Panzer wärmte und die Korallen zum Leuchten brachte. Es war eine kalte, magische Schönheit. Sie vermisste das Gefühl der Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Sie vermisste das offene Blau des Ozeans und den Blick auf den Himmel über ihr.

„Dieser Ort ist ein Wunder“, flüsterte sie in die stille Dunkelheit, „aber es ist nicht mein Zuhause.“

Der Rückweg war schwieriger als beim letzten Mal. Aus der Tiefe der Höhlen musste sie erst den Ausgang finden. Sie orientierte sich an einer Kette von leuchtenden Algen, die wie ein Wegweiser aus dem Höhlensystem hinausführten. Dann musste sie aus der Tiefe wieder nach oben schwimmen, immer dem heller werdenden Blau entgegen. Es war ein langer und mühsamer Aufstieg.

Als sie endlich die Wasseroberfläche durchbrach und die warme Sonne auf ihrem Panzer spürte, atmete sie tief durch. Sie fühlte sich wie neugeboren. Die Reise zurück zur Koralen-Bucht war lang, aber der Gedanke an ihre Freunde und die Wärme ihres Zuhauses trieb sie an.

Das Willkommen war noch herzlicher als beim ersten Mal. Krabbo schimpfte sie ein wenig, weil sie sich schon wieder solche Sorgen gemacht hatten, aber seine Augen strahlten vor Freude. Die Flossenfeins führten einen Freudentanz um Shaggy auf. Als sie von den funkelnden Kristallhöhlen erzählte, hörten alle andächtig zu. Shaggy verstand nun noch besser: Abenteuer waren aufregend, aber die Rückkehr war das schönste Gefühl der Welt.

Die dritte Reise: Das laute Paradies

Shaggy war nun eine erfahrene Reisende, wenn auch unfreiwillig. Sie lernte die Zeichen der Strömungen zu lesen und blieb meist in der sicheren Mitte ihrer Bucht. Doch der Ozean ist voller Überraschungen. Ein heftiger Sturm, weit draußen auf dem Meer, veränderte die Strömungen für einige Tage. Eine gewaltige Welle erfasste Shaggy und zog sie mit einer Kraft, der sie nichts entgegensetzen konnte, hinaus in den tiefsten und weitesten Teil des Ozeans.

Diese Reise war beängstigend. Tagelang sah sie nichts als endloses, tiefes Blau unter sich und den weiten Himmel über sich. Riesige Wale zogen majestätisch in der Ferne vorbei, ihre Gesänge erfüllten das Wasser mit einer tiefen, melancholischen Melodie. Ein Schwarm Delfine sprang verspielt um sie herum und wünschte ihr Glück, bevor sie weiterzogen. Shaggy fühlte sich sehr klein und allein in dieser unendlichen Weite.

Schließlich, als ihre Kräfte schon fast am Ende waren, spülte die Strömung sie an den Strand eines Atolls. Es war ein Ort wie aus einem Bilderbuch. Der Sand war so weiß, dass er in der Sonne blendete. Das Wasser in der Lagune leuchtete in den unglaublichsten Türkistönen. Die Korallen hier waren noch bunter und größer als zu Hause. Papageienfische in schillernden Neonfarben knabberten laut an den Korallen, und riesige Schwärme von Doktorfischen zogen wie bunte Wolken umher. Alles war voller Leben, voller Farbe, voller Geräusche.

Zuerst dachte Shaggy, sie sei im Paradies gelandet. Doch bald merkte sie, dass dieses Paradies sehr anstrengend war. Es war laut. Das ständige Knirschen der Papageienfische, das laute Rufen der Seevögel, das geschäftige Treiben von hunderten von Fischen – es gab keinen ruhigen Moment. Die Fische hier waren nicht so freundlich wie in ihrer Bucht. Sie waren territorial, jagten einander und schienen immer in Eile zu sein.

Shaggy versuchte, sich auszuruhen, aber überall war Trubel. Sie fand eine Sorte Seegras, aber es schmeckte bitter. Sie versuchte, mit ein paar Fischen zu sprechen, aber sie hatten keine Zeit für eine langsame Schildkröte. Dies war ein Ort der Schönheit, aber es war eine laute, hektische, überwältigende Schönheit. Es fehlte die sanfte Harmonie ihrer Koralen-Bucht. Es fehlte die Stille, die sie so liebte, wenn sie sich treiben ließ. Es fehlten die vertrauten Gesichter ihrer Freunde.

„Dieser Ort mag für andere ein Paradies sein“, dachte Shaggy traurig, „aber es ist nicht mein Zuhause.“

Der Gedanke an die Rückkehr schien diesmal unmöglich. Sie war so weit weg, weiter als je zuvor. Verzweifelt ließ sie sich ins tiefere Wasser gleiten. Da tauchte neben ihr ein riesiger Schatten auf. Es war einer der großen Wale, die sie zuvor gesehen hatte. Seine Augen waren alt und weise.

„Du siehst verloren aus, kleine Schildkröte“, sagte der Wal mit einer Stimme, die wie das Grollen des Ozeans klang.

Shaggy erzählte ihm ihre Geschichte. Der Wal hörte geduldig zu. „Dein Herz weiß, wo es hingehört“, sagte er schließlich. „Die Große Blaue Strömung hat dich hergebracht, aber es gibt Gegenströmungen, die dich zurückführen können. Suche den Weg des kalten Wassers, das aus der Tiefe aufsteigt. Er wird dich nach Norden führen. Es wird eine lange Reise, aber dein Zuhause wartet auf dich.“

Dankbar folgte Shaggy dem Rat des Wals. Sie fand die kalte Strömung und ließ sich von ihr tragen. Es war eine lange, entbehrungsreiche Reise. Sie musste all ihren Mut und all ihre Kraft zusammennehmen. Aber der Gedanke an Krabbo, die Flossenfeins und ihre friedliche Bucht war wie ein Leuchtfeuer in ihrem Herzen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit roch sie etwas Vertrautes im Wasser. Es war der Duft der süßen Algen vom Felsen am Ostrand! Mit letzter Kraft paddelte sie die letzten Meter und glitt in das herrlich warme Wasser der Koralen-Bucht.

Ihre Freunde hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. Als sie Shaggy sahen, war die Freude unbeschreiblich. Krabbo umarmte sie so fest er konnte mit seinen Scheren, und die Flossenfeins tanzten so wild, dass die ganze Anemone wackelte.

An diesem Abend, als die Sterne am Himmel aufgingen und die Koralen-Bucht im sanften Mondlicht lag, versammelten sich alle um Shaggy. Sie erzählte von der unendlichen Weite des Ozeans, von dem weisen Wal und von dem lauten, bunten Paradies, das doch kein Zuhause war.

„Ich habe die grünsten Wälder gesehen, die man sich vorstellen kann“, sagte sie leise. „Ich habe in Höhlen geschwommen, die wie der Sternenhimmel funkeln, und ich war an einem Ort, der bunter ist als jeder Regenbogen. Es sind alles wunderschöne Orte. Aber keiner von ihnen hat sich richtig angefühlt.“

Sie schaute in die vertrauten Gesichter ihrer Freunde und auf die sanft wogenden Korallen ihrer Heimat. „Zuhause ist nicht nur ein Ort“, verstand sie nun. „Es ist ein Gefühl. Es ist die Wärme der Sonne auf meinem Panzer, der Geschmack der Algen, die ich liebe. Es sind die Geschichten von Krabbo und das Lachen der Flossenfeins. Es ist der Ort, an dem mein Herz zur Ruhe kommt.“

Von diesem Tag an genoss Shaggy ihre Nickerchen in der Mitte der Bucht noch mehr. Sie träumte immer noch von fernen Orten, aber sie hatte keine Sehnsucht mehr, dorthin getrieben zu werden. Sie wusste nun, dass das größte Abenteuer nicht darin bestand, die Welt zu sehen, sondern einen Ort zu haben, den man von ganzem Herzen sein Zuhause nennen kann. Und sie wusste ohne jeden Zweifel, dass ihre kleine, ruhige Koralen-Bucht für sie der allerschönste Ort auf der ganzen, weiten Welt war.


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